Kapitel 18- Und irgendwie nie ganz allein

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Kapitel 18- Und irgendwie nie ganz allein

Erschöpft sah sie dabei zu wie der altersschwache Ford von Mrs Penelope Stuart, die offenbar ein durch und durch persönlich Problem mit Miss Walter zu haben schien und sich daher diebisch gefreut hatte ihr mit Sevil einen möglichen Gast streitig zu machen, davon fuhr. Bevor der Wagen hinter der Biegung verschwand, erschien ein letztes Mal der Arm der anderen Frau und winkte. Sevil erwiderte den Abschiedsgruß. Dann war sie fort und Sevil war endlich allein.

Völlige Ruhe umgab sie und tief atmete sie die frische, klare Luft ein. Außer dem Stimmgewaltigen Chor zahlreicher Vogelstimmen war da kein anderer Laut zu hören und zum ersten Mal erschien es ihr, als könnte sie ihre eigenen Gedanken wieder hören.
Sie war vollkommen erschöpft. Noch lange hatte sie wach gelegen und über alles nachgedacht. Dabei war ihr, ganz ohne ihr zutun, wieder und wieder der seltsam intensive Augenblick zwischen ihr und Jake in den Sinn gekommen. Was für eine befremdliche Situation.
Er hatte ihr versprochen die Nacht da zu bleiben und auf dem Sofa zu schlafen, doch als sie am nächsten Morgen aus dem Zimmer gekommen war, war die Bettwäsche ordentlich zusammen gelegt und er selbst verschwunden gewesen. Und auch wenn sie genau damit gerechnet hatte, war sie enttäuscht gewesen.
Er würde sich melden, hatte es auf einem kleinen Zettel, der auf dem Deckel ihres Laptops klebte, geheißen. Zusammen mit der Ermahnung auf sich aufzupassen.
Ihr schwirrte der Kopf. Es waren so viele einschneidende Dinge innerhalb kürzester Zeit geschehen und sie ahnte dunkel, dass sie noch nicht einmal damit angefangen hatte es zu verarbeiten.
Doch dafür blieb ihr keine Zeit. Sie wollte Antworten. Sie brauchte Antworten. Und die fand sie nur hier, an diesem Ort.
Nach einem letzten tiefen Atemzug zog die Brünette sich ins Haus zurück, schloss die Tür ab und sah sich dann aufmerksam um.
Jake hatte Recht gehabt. Das kleine, zweistöckige Häuschen lag mitten in dem dunklen, stillen Wald. Nur nicht so abgeschieden, wie sie erwartet hatte, auch wenn man den Eindruck gewinnen konnte.
Pale Water war nur wenige Minuten mit dem Auto entfernt und sogar Fußläufig zu erreichen und auch Duskwood war keine zwanzig Minuten weit weg.
Die Hauptstraße, die die beiden Städte miteinander verband, lag direkt hinter der Kurve, um die kurz zuvor Mrs Stuats Ford verschwunden war.

Sie war also nicht so isoliert wie die anderen befürchtet hatten und vielleicht würde das alle besänftigen, wenn sie ihnen endlich gestand dass sie zurück war.
Noch hatte sie niemandem etwas gesagt. Zunächst brauchte sie ein wenig Zeit für sich. Einen klaren Kopf bekommen, noch einmal die vielen Notizen durchgehen, die sich auf Michaels Laptop befanden und sich endlich der E-Mail von Elenor widmen, die in ihrem eigenen Mailfach lauerte.
Und dabei den anhaltenden Kopfschmerz und die enervierende Erschöpfung ignorieren. Auch wenn da ein kleines Stimmchen in ihrem Inneren ihr riet, die Zeichen ihres Körpers zu beachten. Die Fahrt hatte sie mehr angestrengt, als sie zugeben wollte aber sie war schon immer bereit gewesen ihre eigenen Grenzen weit zu überschreiten, wenn es nötig war.

Sie wusste dass ihre Chefin sich schwere Vorwürfe machte und ahnte was sie ihr vorschlagen wollte. Aber noch war Sevil nicht bereit für die Auseinandersetzung. Noch hatte sie keine Entscheidung getroffen, wie es nun weiter gehen sollte. Fakt war, dass alles was sie nun tun würde, von dieser Haus aus geschehen würde.

Ihr Handy gab ein Signal von sich und ein rascher Blick zeigte eine weitere Nachricht in der Gruppe. Sie steckte das Gerät wieder in die Tasche, zögerte einen Moment und holte dann die Dinge heraus, die sie bei ihrem letzten Treffen mit Mick von diesem erhalten hatte. Die Kamera, das Diktiergerät und das kleine Alarmsystem. Genau dieses nahm sie heraus und machte sich daran es aufzubauen. Sie war nicht naiv, auch wenn man das angesichts ihres Aufenthaltortes vermuten wollte. Sie war sich der Gefahr, in die sie sich begab, absolut bewusst und wollte vorbereitet sein. Aus diesem Grund hatte sie noch andere Dinge eingepackt, die das Alarmsystem ergänzen sollten und als sie fertig damit war alles einzurichten, fühlte sie sich ein klein wenig sicherer.

Ein erneuter Blick auf ihr Handy. Es waren gute drei Stunden vergangen und inzwischen war die Anzahl ungelesener Nachrichten ins unermessliche gestiegen. Doch wieder ignorierte sie den Chat sowie alle einzelnen Nachrichten jeden einzelnen Mitglieds der Gruppe und wollte gerade lesen, was auch Jake ihr inzwischen geschrieben hatte, als eine neue Nachricht einging und sie innerlich gefrieren ließ.
Das konnte nicht sein.
Fassunslos stand sie mitten in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer und starrte auf das Handy in ihrer immer kälter werdenden Hand.
Michael: Wie konntest du mich im Stich lassen?
Ein spitzer Schrei entrang sich ihrer Kehle als das Gerät im nächsten Moment klingelte. Unbekannt. Jake...oder etwa doch nicht?
Sie zögerte. Unsicher ob sie denjenigen, der sie zu erreichen versuchte, wirklich hören wollte. Dann aber gab sie sich einen Ruck und nahm den Anruf entgegen.
„Ja?"
„Du bist angekommen."

Sie konnte nicht verhindern dass sie laut vernehmlich aufatmete als ihr Jakes Stimme im Ohr klang. Dieses Mal ohne künstliche Verzerrung sondern menschlich und noch genauso warm und dunkel wie sie sie am Abend zuvor in ihrer Wohnung gehört hatte.
„Ja.", gab sie zurück und ärgerte sich insgeheim darüber, dass man ihrer Stimme noch den Schrecken anhören konnte.
„Ist alles in Ordnung?", quittierte er augenblicklich diesen Umstand.
„Ja ich..ich bin nur erschöpft, das ist alles."
Stile. Im Hintergrund nahm sie ein Rauschen war, das sie nicht zuordnen konnte.
„Du...weißt dass ich jeden Eingang auf dein Handy registriere, oder?"
Still vor sich hinfluchend sah sie sich um, als würden sie ihn jeden Moment in einer der Ecken sitzen und sie beobachten sehen. Das war natürlich Quatsch auch wenn sie sich eingestehen musste, dass sie nichts dagegen gehabt hätte ihn noch einmal bei sich zu haben. Sie hatte so viele Fragen und fühlte sich trotz allem überraschend sicher in seiner Nähe.
„Nein...das habe ich wahrscheinlich schlicht verdrängt. Du rufst also wegen der Nachricht an."
„So ist es."
„Dahinter steckt irgendein kranker Spinner. Ich werde die Nachricht ignorieren wie all die anderen auch."
„Was soll das heißen? Welche Anderen?"
Sevil seufzte. Sie hatte nicht die geringste Lust ihn auf eine Reise in die Abgründe ihrer Vergangenheit mitzunehmen.
„Lass Gut sein, Jake."
Stille. Offenbar hatte er so seine Schwierigkeiten mir ihr umzugehen. Wie sonst ließen sich seine manchmal etwas befremdlich anmutenden Handlungen erklären?
„Andere seit Michaels Tod?"
Es so direkt ausgesprochen zu hören versetzte ihr einen schmerzhaften Stich, doch sie rang die Emotionen hinunter und seufzte entnervt.
„Nein schon viel früher. Das hat nichts mit dieser Geschichte hier zu tun, okay? Kein Grund zur Sorge."
„Jemand quält dich.", stieß er aus und klang dabei ziemlich überrumpelt.
„Nur wenn ich mich quälen lasse. Und das habe ich nicht vor. Gibt es sonst noch etwas? Ich bin ziemlich müde."
„Du willst nicht dass ich das stoppe? Du weißt dass ich es kann."
Sevil wischt sich müde übers Gesicht und ließ sich auf das Sofa sinken.
„Du vergisst dabei dass ich es bisher auch ohne dich schaffen musste.", erinnerte sie ihn und bemerkte überrascht wie sanft ihre Stimme mit einem Mal klang. „Wirklich Jake, ich bin schlimmeres gewohnt. Wenn man es ignoriert dann hört es von selbst wieder auf."
„Jemand hat Michaels Handy.", merkte er an und sie schloss gequält die Augen.
„Ja...das ist eine längere Geschichte die nur für Bitterkeit und Frustration sorgen würde. Nur so viel: Nicht nur Duskwood ist ein Kaff, dass jedem Menschen einen Stempel aufdrückt. Sowas passiert überall, halb so wild."
Wieder schien er einen Moment über ihre Worte nachdenken zu müssen.
„Wirst du es mir irgendwann erzählen?"
„Vielleicht. Also? Wolltest du sonst noch etwas?"
Jake holte Atem. Unwillkürlich sah sie ihn vor sich, wie er irgendwo in seiner geheimen Zentrale saß, umgeben von all den technischen Geräten, die sie aus dem Videochats kannte und sich ratlos das schwarze Haar raufte, wie er es als Kind immer getan hatte. Die Vorstellung amüsierte sie und sie musste lächeln.

„Du hast den Anderen noch nicht gesagt dass du zurück bist."
Es war eine seltsame Angewohnheit dass er nur Feststellungen traf und nur selten Fragen stellte.
„Ich wollte erstmal einen klaren Kopf bekommen. Mich einrichten und ein paar Dinge überdenken."
„Du solltest jetzt nicht allein sein. Triff dich mit den Anderen."
„Sie sind nicht meine Freunde, das ist dir schon klar?"
„Aber sie könnten es werden... zumindest die, die nichts mit der Sache zu tun haben."
Sie seufzte schwer, hatte er damit doch den Kern ihrer Probleme mit dieser Gruppe angesprochen.
„Für mich sind sie aber alle verdächtig und so wie ich das heraus gelesen habe ging es Michael nicht anders. Er konnte nicht einmal Jessy vollkommen ausschließen."
„Das hat ihn sehr belastet."
Sie nickte in Gedanken, bis ihr einfiel, dass er sie nicht sehen konnte. Zumindest hoffte sie das. Mit neu erwachtem Misstrauen sah sie sich aufmerksam um und stellte fest, wie lächerlich sie sich eigentlich benahm.
„Ich werde mich morgen bei ihnen melden. Viellicht noch heute Abend, das werde ich noch sehen.", versprach sie ihm, konnte an seinem kurzen Schweigen aber erkennen, dass es nicht das war, was er hatte hören wollen. Aber zum Glück beließ er es dabei.
„Melde dich später noch einmal.", bat er, bevor er auflegte.
Einen Moment behielt sie das Handy noch in der Hand und betrachtete es nachdenklich. Dann legte sie es zur Seite und wandte sich dem Fenster zu, das den Blick in den Wald offenbarte.

Unter anderen Umstände hätte ihr dieser Anblick gefallen. Nun aber stellte sie sich unweigerlich die Frage ob sich irgendwo im Schatten jemand verbarg und sie beobachtete. Jemand, der nicht im Sinn hatte Informationen von ihr zu bekommen oder gar sie zu beschützen. Irgendwo in die Tiefen dieses Waldes trieb sich eine Person herum, die zu allem bereit war und ein bisher noch gänzlich unbekanntes Ziel verfolgte. Und mit einem Mal zweifelte auch Sevil ihren eigenen Entschluss dieses Haus betreffend an. Energisch schloss sie die Vorhänge. Erst als sie das Haus abgegangen und sicher war, dass alle Türen und Fenster verschlossen, die Alarmanlagen sowie die bewegungsgesteuerten Kameras auf allen Seiten des Hauses aktiv waren, konnte sie sich etwas entspannen und ließ sich endlich mit schmerzendem Kopf auf das Sofa nieder um sich doch noch dem Gruppenchat zu widmen. Und kaum hatte sie das getan, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Denn das Hauptthema war sie selbst.

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