Kapitel 10- Neue Blickwinkel

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Kapitel 10-Neue Blickwinkel

Nur langsam gelang es ihr aus den Tiefen wieder hervor zu kommen. Alles war wie in Watte gepackt. Wie von sehr weit weg drangen Stimmen durch den Schleier der Benommenheit, der sich nur langsam lichten wollte.
„Ich glaube sie wacht auf.", sagte eine belegte Frauenstimme und ein Schatten beugte sich über sie.
„Wir hätten sie trotzdem ins Krankenhaus bringen sollen. Man die is einfach so weg gewesen."
Sie gab ein widerwilliges Brummen von sich und spürte eine kühle Hand, die sich auf ihre Stirn legte.
„Wir wissen dass du das nicht wolltest und haben dich wieder in dein Zimmer gebracht.", sagte wieder die Frauenstimme.
Nun erkannte sie die blassen Züge. Es war Jessy. Mühsam nickte sie und kniff die Augen dann wieder zu. Ihr dröhnte der Kopf und das herein fallende Licht stach ihr in den Augen.
„Thomas zieh die Vorhänge vor.", glaubte sie Cleo sagen zu hören und es wurde prompt dunkler. Vorsichtig schlug sie die Augen wieder auf.
„Du hast uns erschreckt", sagte eine neue Stimme und Lillys blonder Schopf erschien in ihrem Blickfeld.
„Sorry.", murmelte sie und verschwieg, dass sie sich selbst erschreckt hatte.

Nun erschien Dan. Ebenso blass wie die Anderen. Und dennoch hatte er ein schiefes Grinsen für sie übrig.
„Ich finds ja toll wenn mir die Frauen zu Füßen liegen, aber nicht wenn sie dann nicht wieder aufwachen."
Ein Laut entschlüpfte ihren Lippen und es brauchte einen Moment bis sie erkannte, dass es ein Lachen gewesen war.
Dan's Grinsen vertiefte sich ein wenig und er verschwand wieder.
„Was wolltest du denn im Wald?", wollte Jessy wissen. Ihre Stimme zitterte und noch immer unterbrach sie hie und da ein leises Schniefen. Sevil wollte sich nicht einmal vorstellen wie sie sich fühlen musste.
„Weg.", gab sie hilflos zurück. „Ich wollte nur...weg."
Darauf schwiegen sie alle und sahen betreten zu Boden.
„Das mit Michael tut uns allen sehr Leid.", durchbrach Cleo schließlich leise die Stille. „Wenn wir gewusst hätten...wir hatten keine Ahnung..."
„Das habe ich inzwischen auch gemerkt.", unterbrach Sevil sie und mühte sich um Fassung. Mühsam richtete sie sich auf. Es gefiel ihr nicht hier schutzlos und schwach zu liegen während sie alle wie die begossenen Pudel um sie herum standen.
„Ich war...nicht mehr ich selbst. Ich war wütend und brauchte einen Schuldigen...schätze ich. Ich...hätte daran denken müssen dass..." Ihre Stimme brach. Sie musste sich räuspern bevor sie weiter sprechen konnte. „Ich hätte wissen müssen dass euch niemand Bescheid sagt. Wer denn auch, es gibt niemanden mehr außer mir."

„Aber du hast uns für seinen Tod verantwortlich gemacht."
Die Stimme kannte sie noch nicht und wandte den Kopf. In der hintersten Ecke lehnte blass und mitgenommen ein junger Mann. Blond, mit eingefallenen Zügen und tiefen Ringen unter den Augen. Das also musste Richy sein.
„Richy?", murmelte sie.
Er nickte schwach ohne aufzublicken und Sevil ahnte was in ihm vorging. Also kämpfte sie sich hoch, bis es ihr gelang ihre Beine aus dem Bett zu schwingen und sich unsicher aufzurichten.
Dans Züge verfinsterten sich.
„Was genau soll das werden?", knurrte er unwirsch und machte einen Schritt auf sie zu.
„Jetzt hört mal.", sagte sie statt ihm zu antworten und fasste einen jeden von ihnen der Reihe nach ins Auge. Sie hoffte dass da noch ein weiterer Zuhörer war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Sie war sich nicht sicher ob es ihr noch einmal gelingen würde zu sagen, was sie nun sagen musste.
„Ich habe mich in meiner Trauer und meiner Wut verloren und mich ...wirklich sehr egoistisch verhalten." Sie hob die Hand als gleich alle ansetzten etwas zu sagen und schüttelte sachte den Kopf. „Das tut mir wirklich sehr Leid. Ich kann nichts dagegen tun dass ein Teil von mir...daran festhält dass mein Bruder noch leben würde wenn er nicht in diese Geschichte gestolpert wäre. Ich kann nicht anders als wütend zu sein weil er immer wieder von einem von euch um jeden Preis dabei gehalten wurde ....aber ich weiß auch dass es genau das ist, was ihn ausgemacht hat. Michael war tapfer und loyal. Er war keiner, der einfach wegsieht und hat immer eingegriffen wenn jemand Hilfe brachte. Das machte ihn so wundervoll. Das habe ich so an ihm geliebt. Er hat euch über die Zeit, die er mit euch zu tun hatte, ins Herz geschlossen. Ihr seid seine Freunde geworden und sogar mehr." Ein kurzer Blick ging zu Lilly, deren Augen schon wieder überliefen. Sie lächelte zittrig.

„Ihr....habt ihn genauso verloren wie ich. Das habe ich nur nicht erkannt. Also nein. Keiner von euch ist schuld an seinem Tod, wirklich keiner. Weil er getan hat was er immer tat, wenn ein anderer Mensch Hilfe brauchte. Er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt um zu helfen. Aber ich brauche Zeit. Ich habe letzte Woche meinen Bruder beerdigt und..."
Nun zuckte sie hilflos mit den Achseln, aber die Anderen verstanden sie auch so.
„Melde dich trotzdem wenn du etwas brauchst. Wir...haben dir unsere Nummern aufgeschrieben.", sagte Cleo und einen Moment wirkte es als würde sie sie umarmen wollen. Dann aber lächelte sie ihr nur traurig zu und wandte sich zum Gehen, dicht gefolgt von den Anderen.

Nur Lilly blieb zurück und betrachtete Sevil einen Moment lang schweigend. Dann straffte sie die Schultern und sah ihr geradewegs in die Augen.
„Da gibt es noch jemanden, der sich Sorgen gemacht hat.", sagte sie fest.
Automatisch huschte der Blick der Brünetten hinüber zu dem Laptop. Zwar war der Bildschirm schwarz, doch das kleine blinkende Licht an der Seite offenbarte ihr, dass er eingeschaltet war.
„Ja, das habe ich mir schon gedacht.", gab sie ruhig zurück. Die Blonde taxierte sie mit ihrem Blick und rang sichtlich mit sich selbst.
„Ich habe einige schwerwiegende Fehler gemacht.", gestand sie dann und Sevil nickte.
„Das weiß ich. Ich habe die Auswirkungen live miterlebt und habe gerade eindrucksvoll bewiesen, dass niemand frei von Fehlern ist."

Einen Moment standen die beiden Frauen einander gegenüber und der Hauch eines Lächelns umspielte beide Mienen. Dann nickte Lilly, wie um sich selbst einen inneren Monolog zu bestätigen und ließ Sevil ebenfalls allein. Allein mit ihren Gedanken und dem, der dort hinter dem dunklen Bildschirm auf sie wartete.

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