Kapitel 29- Der Wahrheit so nah (1)

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29- Der Wahrheit so nah Teil 1

Ihre Träume waren von Jake erfüllt gewesen und so schoss Sevil an diesem Morgen noch genauso verwirrt aus dem unruhigen Schlaf hervor, wie sie am Abend zuvor darin versunken war.
Ein leichtes Pochen in ihrer Schläfe kündigte Kopfschmerzen an, doch noch hatte sie Hoffnung, er würde von selbst wieder verschwinden.
Sie lauschte.
Im Haus war es still, aber das musste nichts heißen. In der ganzen Zeit, die sie nun mit Jake verbrachte, hatte sie nicht einmal erlebt dass er durch Geräusche auf sich aufmerksam machte. Nur wenn er das wollte und das war eher selten der Fall. Sie konnte nicht ewig hier liegen bleiben und sich verstecken. Am Ende kam er noch auf die Idee nach ihr zu sehen und dieser Gedanke war es letztlich, er sie aus dem Bett trieb.

Vor der Tür hielt sie noch einmal inne und atmete durch, bevor sie die Schultern straffte und das Wohnzimmer betrat.
Es war leer.
Verwirrt sah sie sich um. Schlief er etwa noch? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Doch vorsichtshalber trat sie an die an zweite Schlafzimmertür und lauschte. Auch da kein Laut. Was sollte sie also tun?
Ihn schlafen lassen? Oder ihn doch wecken?
Ein seltsames Gefühl stieg in ihr hoch. Es fühlte sich an, als hätte sie etwas Wertvolles verloren ohne zu wissen, ob sie es je wieder sehen würde. Nun wurde sie auch noch melodramatisch. So sie sich aber auch bemühte, dieses seltsam ungute Gefühl ließ sich einfach nicht abschütteln und sie kehrte sie doch wieder an die Tür zurück und klopfte.
„Jake?"
Nichts. Er lebte seit langem ständig auf der Flucht. Ihr Klopfen würde er kaum überhören, oder etwa doch?
Es widerstrebte ihr. Als er jedoch nach nochmaligem Klopfen immer noch nicht reagierte, drückte sie die Klinke herunter.
Das Zimmer war leer. Das Bett scheinbar unberührt.
Fassungslos stand sie da und glotzte in den menschenleeren Raum, dann begab sie sich auf die Suche nach einer Notiz. Ohne Erfolg.

Wo auch immer er hingegangen war, er hatte es nicht für nötig befunden ihr irgendetwas mitzuteilen. Und zu ihrer eigenen Überraschung stiegen ihr Tränen in die Augen.
Ohne es bewusst zu steuern holte sie ihr Handy, doch auch da wartete keine Nachricht von ihm. Sie schrieb ihm eine kurze Nachricht, wollte wissen, wo er hin verschwunden war, doch ihre Nachricht wurde nicht zugestellt.
Dann versuchte sie ihn anzurufen. Nichts.
Sollte das seine Antwort sein? War er so jemand?
Ein Teil in ihr glaubte nicht daran. Dafür hatte er zu viel riskiert und hatte sich zu großen Gefahren ausgesetzt.
Aber da war auch ein anderer Teil, der verletzt und verraten worden war und sich nie ganz erholt hatte. Der war es, der ihr die Tränen schickte. Das bittere Gefühl von Verrat und Enttäuschung. Und dann schließlich die Wut.

„Na schön.", murmelte sie und zog wieder ihr Handy. Sie hatte nicht vor Zuhause zu sitzen und Däumchen zu drehen bis er sich wieder blicken ließ, wenn er das denn tun würde. Sie hatte eine Spur und der würde sie nachgehen. Mit oder ohne ihn.
Also packte sie zusammen, was sie zu brauchen meinte. Michaels Notizbuch, etwas zu schreiben, ihr Handy und etwas Geld, dann verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zur Bibliothek.

Bis sie dort war, dauerte es eine Weile. Der Morgen war überraschend frisch, sie fröstelte und spürte den Tau unangenehm klamm auf ihrem Pullover. Doch ihr Gemüt konnte es nicht abkühlen. Eisern verbot sie sich an den Anderen zu denken und erfand so immer neue Vorwände auf ihr Handy zu sehen. Nur um es, doch enttäuscht, wieder wegzustecken.
Schließlich erreichte sie ihr Ziel und warf einen letzten Blick auf die Botschaft, dann betrat sie die Bibliothek und entdeckte eine hagere Frau hinter einem Tresen.
Ohne dass sie es begründen konnte, durchfuhr sie im ersten Moment ein gewaltiger Schrecken, der sie verwirrt zurück ließ. Die Frau blickte auf. Eine entfernte Ähnlichkeit zu irgendjemanden, den sie einmal gekannt haben musste und so flüchtig, das sie dem nicht einmal ein Gesicht zuordnen konnte. Nur dieses Gefühl schwachen Widererkennens. Ein enervierendes Gefühl. Dass sie gleich noch ein bisschen unruhiger machte.
„Guten Morgen.", begrüßte sie die Fremde und erhob sich. „Ich bin Mrs Tenner, kann ich helfen?"
Sevil brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Wie sollte sie jetzt vorgehen?
„Ich...weiß nicht.", stammelte sie und erntete ein nachsichtiges Lächeln.
„Ich glaube...also mein Bruder, Michael, hat hier wohl vor kurzem ein Buch geliehen."
Vor kurzem? Was, wenn er dies am Anfang bereits getan hatte? Oder die Spur etwas vollkommen anderes bedeutete?
„Wie ist denn der Name Ihres Bruders?", wollte Mrs Tenner schmunzelnd wissen und Sevil stieg die Röte in die Wangen.
„Oh... Name ist, ich meine sein Name war Pierce. Michael Pierce."
Der Blick der Frau schoss von dem Monitor ihres Computers wieder zurück zu ihrem Gegenüber.
Der dünnlippige, schale Mund formte betroffen ein perfektes ‚O'.
„Das tut mir Leid.", sagte sie leise und aufrichtig. Sevil nickte.
„Danke. Könnte ich vielleicht erfahren welches Buch er zuletzt ausgeliehen hat? Oder ob er überhaupt etwas ausgeliehen hat?"
Die Frau zögerte. Dann schien sie sich allerdings einen Ruck zu geben und tippte ein paar Dinge in das Programm.
„Er hatte einen Gäste Zugang. Und das letzte Buch...ist da. Sie finden es im vierten Gang Links, dritte Reihe. Nummer 346."
Sevil lächelte erleichtert.
„Vielen vielen Dank."
Eilig und mit wild pochendem Herzen folgte sie der Beschreibung und hielt wenig später ein unscheinbares Buch in den Händen. Interessant allerdings war der Vorname des Autors. Michael.
Verstohlen sah sie sich um, doch es war niemand in der Nähe und tatsächlich fand sie im Inneren des Buches einen gefalteten Zettel. Mit ihrem Namen drauf.
Ihre Hände zitterten als sie ihn in ihre Hosentasche schob und das Buch zurück stellte.
Nun wollte sie Nichts anderes als wieder gehen. Sie bedankte sich hastig bei der überrascht wirkenden Frau und stürzten aus dem Gebäude. Sie hielt nicht an. Erst, als der Markplatz in Sicht kam, verlangsamte sie ihre Schritte und suchte sich eine der Bänke aus, die nicht direkt von allen Seiten aus einsehbar war.
Dann klappte sie die Notiz auf und entdeckte einen neuen Code, mit dem sie eine weitere Seite des Buches entschlüsseln konnte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Botschaft zusammen hatte.

Du brauchst Proviant Such den Regenbogen Frag nach mir

Hätte sie sich inzwischen nicht so sehr in Duskwood ausgekannt, wäre sie nun vermutlich endgültig ratlose gewesen. So aber blickte sie auf und blickte zu Café Regenbogen hinüber. Schon von weitem konnte sie Mrs Sully entdecken, die gut positioniert unter einem Sonnenschirm saß. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Doch Sevil hatte Glück. Gerade als sie sich dem Café näherte, wurde die Klatschtante der Stadt von einer anderen Frau in ein Gespräch verwickelt und sie konnte ungehindert an ihr vorbei schlüpfen und sich an die freundlich wirkende Verkäuferin wenden. Wieder pochte das Herz wild in ihrer Brust.
„Guten Morgen.", begrüßte die Frau sie und schenkte ihr ein Lächeln. „Was darf es sein?"
„Ich bin hier um eine Bestellung abzuholen.", begann sie unsicher. „Auf den Namen Michael Pierce."
Die Frau hielt inne. Erstaunen zeichnete sich auf ihrer Miene ab, bevor sie sich wieder fasste und einen Moment durch einen unauffälligen Durchgang verschwand. Als sie zurückkehrte, hielt sie einen kleinen Beutel in der Hand, in den sie gerade eine kleine Tüte steckte.
„Wir dachten schon da kommt niemand mehr, auch wenn der junge Mann sich sehr sicher war.", ließ sie Sevil wissen. „Und eigentlich machen wir so etwas nicht aber er war sehr überzeugend und hat auch noch etwas extra gezahlt, für die Mühen."
Sevil zwang sich zu einem Lächeln. Sie hatte erkannt was die Frau da noch zusätzlich mit hinein gesteckt hatte. Haferkekse. Ihre Lieblingssorte.
„Ja das war er wirklich. Vielen Dank.", würgte sie mühsam hervor und noch während das Lächeln auf dem Gesicht ihres Gegenüber schwand und in Bestürzung umschlag, hatte sie ihre Beute ergriffen und war hinaus gehastet.

Einen Tränenschleier hatte sich über ihre Sicht gelegt sodass sie beinahe blind hinaus auf die Straße stolperte und nur am Rande eine Bewegung in einiger Entfernung wahrnahm. Ein Schatten, der in dem Moment in einem Hauseingang verschwand als sie aus dem Laden stürzte. Energisch blinzelte sie die Tränen fort und sah genauer hin, doch da war nichts und so dachte sie sich nichts weiter dabei und kehrte zu ihrem vorherigen Platz zurück.
Die schlanke Gestalt, die unauffällig aus dem Hauseingang schlüpfte, kaum dass Sevil sich abgewandt hatte, bemerkte sie daher nicht.

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