Kapitel 22- Das Genie und das Chaos

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Kapitel 22- Das Genie und das Chaos


Zwei Wochen lang geschah nichts. Weder erreichten sie weitere Nachrichten von Michaels Handy, noch gab es weitere bedrohliche Vorfälle. Und auch wenn es eine trügerische Ruhe war, tat es Sevil gut.
Zwar gerieten sie und Jake immer wieder aneinander, weil sie sich nicht die Erholung gönnte, die sie seiner Meinung nach benötigte. Doch es reichte aus damit der Schmerz und der Schwindel sich beinahe vollkommen zurückzogen.
Die meiste Zeit verbrachte Jake mit der Jagd nach dem Unbekannten. Immer wenn es aussah, als würde es ihm gelingen den Schutz des Anderen zu durchbrechen, warf dieser ihn wieder zurück während Sevil sich weiter durch all die Dateien und Notizen ihres Bruders arbeitete.
Besonders sein Notizbuch erweckte immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Etwas war damit. Etwas, das so offensichtlich war, dass sie einfach nicht dahinter kam.
Und das machte sie rasend. So sehr, dass sie und Jake am vergangenen Abend heftig aneinander geraten waren, als er ihr das Buch kurzerhand abgenommen hatte, nachdem sie den gesamten Tag darüber gebrütet und weder gegessen noch getrunken hatte.
Es war hitzig und laut geworden und hatte damit geendet, dass sie den restlichen Abend kein Wort mehr miteinander gesprochen hatten.

Bei den Anderen hatte sie nur sporadisch von sich hören lassen. Sie hatten sich lediglich ausgetauscht, allerdings ohne Erfolg. Tool Tastic, die andere Werkstatt in Duskwood und somit Richys größte Konkurrent ließ mit einer weiteren Inspektion auf sich warten. Der Pfandleiher hatte den Laden aus familiären Gründen geschlossen und niemand wusste, wann er wieder öffnen würde und auch die Suche nach Informationen über Jennifer Manson hatte bisher keine nennenswerten Erfolge gebracht. Sie alle waren frustrierte und das führte innerhalb der Gruppe immer öfter zu Reibereien. Besonders seit Phil, Jessys Bruder, wegen Mangel an Beweisen aus seiner Untersuchungshaft entlassen worden.
Die Tatsache, dass so ziemlich alle in der Gruppe von seiner Schuld überzeugt gewesen waren, hatte Sevil bisher noch gar nicht bemerkt und sie beobachtete mit Sorge, wie Jessy sich immer weiter von den Anderen zurückzog.

Doch momentan konnte sie nichts dagegen tun. Mit Phil hatte sie sich bisher noch gar nicht beschäftigt, wohl aber wahr genommen, dass er am Rande immer mal wieder erwähnt wurde. Auch zwischen Michaels Kritzeleien tauchte der Name immer mal wieder auf. Was entging ihr nur?

„Endlich!"
Jakes euphorischer Ausruf ließ sie an diesem Morgen aus ihrem unruhigen Dämmerschlaf schrecken. Das Notizbuch, das auf ihrer Brust gelegen hatte, fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden während sie, verwirrt und orientierungslos zu dem Schwarzhaarigen blickte, der unweit von ihrer zwischen den Laptops saß.
Mit einem Mal war er auf den Beinen und zog sie in die Höhe.
„Aufgewacht!", forderte er und zog sie mit sich zurück. Es blitzte triumphierend in seinen Augen während er auf einen der Monitore zeigte, der voll von unzusammenhängenden Zahlen war, die sich unermüdlich bewegten und zu verschwinden schienen.
„Du bist ein Genie!", verkündete er und strahlte sie an bevor er sich ganz unvermittelt herab beugte und ihr einen Kuss auf die Lippen drückt. Es war nur eine flüchtige Berührung. Einen Wimpernschlag lang, doch es reichte aus um in ihrem Inneren ein wahres Feuerwerk zu entzünden.

Sichtlich amüsiert, zwinkerte Jake ihr zu, wandte sich dann aber wieder dem Monitor zu.
„Es ist mir gelungen den Pfad zu verfolgen und darüber in sein System zu kommen. Ich habe fast all seine Dateien und für ihn sind sie sehr bald Geschichte."
„Was?", murmelte sie verwirrt, noch immer wie erstarrt.
„Ich habe den Mistkerl erwischt, der dir die Nachrichten schreibt."
DAS verstand sie sehr wohl.
„Und du hast alle seine Daten?"
Jake nickte knapp und widmete sich wieder mit konzentrierter Miene seiner Arbeit.

Einen Moment harrte sie noch aus, dann aber sah sie ein, dass sie nicht mehr von ihm erfahren würde und kehrte zum Sofa zurück um das Buch wieder aufzuheben und ihr Handy zu checken.
Es hatte sich tatsächlich etwas getan.
Cleo hatte sich gemeldet um sie wissen zu lassen, dass die Pfandleihe am Mittag wieder öffnen würde und auch Dan hatte endlich erreichen können, dass sein Wagen noch an diesem Tag kontrolliert werden würde. Das waren großartige Neuigkeiten, was sie sie allesamt wissen ließ.

Doch auch von Lilly und Thomas, die sich letztendlich doch zusammengetan hatten, gab es Neuigkeiten.
Inzwischen wusste Sevil dass es kurz nach Hannahs Verschwinden eine Leiche gegeben hatte. Die sich als ein Mädchen aus Duskwood heraus gestellt hatte. Amy Bell Lewis.
Lilly: Ich kann es nicht fassen. Meine Mutter hat endlich ausgepackt. Amy und Hannah kannten sich. Jennifer hat früher auf sie aufgepasst. Viel weiß ich noch nicht. Mom hat mich abgewürgt, darum fahre ich nachher zu ihr um endlich die ganze Geschichte zu erfahren. Aber es gibt zumindest eine Verbindung zwischen allen drei Mädchen.

Das war eine Überraschung und Sevil hoffte, dass sie nach dem Gespräch zwischen Sevil und ihrer Mutter wirklich alles wissen würden.
Auch sie beglückwünschte Sevil für die tollen Informationen. Dann legte sie das Telefon wieder zur Seite und widmete sich wieder den Notizen ihres Bruders.
Dabei fiel ihr eine Zeile auf, die sie zuvor übersehen hatte. Eine Weile starrte sie wie zur Salzsäule erstarrt einfach nur auf die scheinbar zusammenhanglosen Worte und versuchte den Sinn zu erkennen, der zwischen ihnen bestand.
Ihr wurde kalt. Ihre Gedanken waren wie betäubt. So bemerkte sie nicht, dass Jake aufgehört hatte auf der Tastatur herumzutippen und sie stattdessen aufmerksam beobachtete. Sie bemerkte auch nicht, dass er sich erhob und zu ihr kam. Erst als sich das Polster neben ihr senkte, blickte sie auf.
„Hatte Marianne eine Tochter?", wollte sie wissen.
Aber hätten sie ihr dann nicht irgendwann begegnen müssen? Hätte es von ihr nicht irgendwelche Spuren gegeben?
„Nein.", gab er ruhig zurück und musterte die Seite, die sie aufgeschlagen hatte.
Handerson. Täter? Opfer? Familie? Verrat oder Enttäuschung? Tochter? Schwester? Duskwood! Mord!

Sie starrten beide darauf ohne dass die Worte irgendeinen Sinn für sie ergeben hätten.
„Gab es sonst noch Verwandte?"
Er sah sie an. Musterte ihr Gesicht einen Moment zu lange.
„Das finde ich heraus."
„Laut des Krankenhauses hatte es keine gegeben. Niemand hat sich um die Beerdigung gekümmert, das waren wir."
Dieses Mal wurde sein Blick stechend und sie wusste was er sagen wollte. Diese Frau hatte es nicht verdient, dass sie sich darum kümmerten. Sevil zuckte die Achseln.
„Wir haben einen Schlussstrich gebraucht."
Jake nickte stumm. Hatte den Blick aber abgewandt und sie beschloss das Thema zu wechseln.
„Hast du es geschafft?"
Er sah wieder auf, folgte ihrem Fingerzeig auf den Laptop und nickte dann.
„Ja. Er hat es zu spät gemerkt und konnte nichts mehr ausrichten."
„Aber er hat es bemerkt. Und was jetzt?"
„Jetzt wird er vermutlich ziemlich wütend sein."
Genau dieser Gedanke war ihr auch gerade gekommen und sie schluckte schwer, besann sich dann aber und straffte die Schultern.
„Wer wütend ist begeht schneller Fehler.", beschloss sie.
„Und ist dabei auch noch sehr gefährlich. Wir müssen ab jetzt sehr sehr aufpassen, Sevil."

Das hätte er ihr nicht extra sagen müssen. Doch sie zog es vor nichts darauf zu antworten sondern sich lieber wieder um das Notizbuch zu kümmern. Etwas lag direkt vor ihr, sie musste es nur endlich erkennen.
Ohne dass sie es merkte, verging die Zeit und das helle Licht des Tages wurde zusehends schwächer. Ein leiser Laut neben ihr, ließ sie aufblicken und erst jetzt erkannte sie, dass er sie beobachtet hatte. Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie bis ins Mark traf.
„Du hast früher schon immer so finster geschaut wenn du dir an einem Rätsel die Zähne ausgebissen hast.", stellte er amüsiert fest.
„Ich schau nicht finster!", gab sie unwirsch zurück. Jake lachte leise.
„Oh doch. Wir haben die Rätsel früher extra schwer gemacht nur um diesen Ausdruck zu sehen!"
Sie setzte zu einer Erwiderung an, da traf es sie wie ein Blitz.

„Das ist es!", stieß sie fassungslos aus und beugte sich wieder über das Notizbuch. Versuchte in dem schwindenden Licht noch genug zu erkennen um ihre Vermutung zu bestätigen.
„Was ist was?", wollte er verwirrt wissen während er sich erhob. Kurz darauf flammte das Licht auf und er kehrte zu ihr zurück.
„Der Code. UNSER Code. Erinnerst du dich? Die ganze Zeit habe ich überlegt was mich stört. Die hervorgehobenen Buchstaben! Wenn man die richtigen nimmt, ergeben sie ein Wort und diese Reihenfolge...."
„Verrät er mit einem verborgenen Zahlenwort irgendwo inmitten des Gekritzels.", ergänzte Jake. „Das hatte ich vollkommen vergessen."
„Ich auch!", gab sie mit einem aufgekratzten Lachen zurück.
„Er war ein Genie.", hauchte sie und nahm sich die erste Seite vor.
„Ihr seid beide Genies.", gab er kopfschüttelnd zurück. Dann wurde ihre Antwort von dem durchdringenden Alarm des Warnsystems einfach verschluckt.

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