Kapitel 15- Obsession
Sie war tief unten. Nur hin und wieder gelang es ihrem Bewusstsein sich an die Oberfläche zu kämpfen und auch das nie vollkommen. Ihre Welt bestand nur noch aus wirren Fetzen, die meist vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen waren und ein verwirrendes Mosaik aus Eindrücken und Bildern ergab.
Ein Raum. Licht. Jemand, der sich über sie beugte. Der Ferne Klang von Worten, deren Bedeutung es nicht bis zu ihrem Bewusstsein schaffte.
Kälte. Schmerz. Der verzweifelte Versuch sich in dieser bizarren Welten aus Bruchstücken zurecht zu finden.
Es dauerte eine seltsam leere Ewigkeit, bis Laute an ihre Ohren drangen. Hektische Schatten huschte durch die blendende Helligkeit, die ihr in die Augen stach und den gleißenden Schmerz in ihrem Kopf noch weiter anstachelte.
Sie wusste nicht warum, doch sie spürte, dass sich die Situation verändert hatte. Etwas war anders als zuvor.
Noch immer waren da die Kälte und der Schmerz. Doch ganz deutlich nahm sie war, dass sie keinen Grund hatte sich zu fürchten.
Etwas berührte ihre Wange und es dauerte etwas bis sie erkannte, dass es eine Hand war. Jemand beugte sich über sie und warf einen wohltuenden Schatten über sie.
„Sevil?"
Mühsam fokussierte sie ihren Blick. Ihre Sicht wurde klarer, das Bild stellte sich scharf und offenbarte einen Fremden in Uniform, der sich über sie beugte. Und als hätte jemand einen Regler hoch gedreht, stürzten schlagartig alle Geräusche auf sie ein und rissen die Benommenheit in Fetzen.
Laute Stimmen. Barsche Befehle, die eine einzelne Stimme übertönten. Schrill und Hysterisch hob sie sich immer wieder zwischen den Anderen hervor und mühsam wandte sie den Blick.
Das Bild, das sich ihr offenbarte, wollte keinen Sinn ergeben. Ein Mann lag am Boden und wehrte sich noch immer gegen den Uniformierten, der auf seinem Rücken kniete. Seine weit aufgerissenen Augen starrten sie an. Sein langes Haar war zerzaust.
„Du hast alles zerstört! Du hast mich dazu gezwungen!", kreischte Tylor und wiederholte die Worte auch immer noch, als sie ihn grob auf die Beine rissen. Zwei Polizisten flankierten ihn und hielten ihn eisern fest, während sie ihn an ihr vorbei führten. Er warf sich in ihren Griff, in ihre Richtung und instinktiv wollte sie zurück weichen. Doch ihr Körper reagierte nicht auf den Befehl. Und erst jetzt spürte sie das seltsam taube Gefühl, das von ihr Besitz genommen hatte.
„Ganz ruhig.", drängte sich wieder die fremde Stimme in ihre Wahrnehmung. „Er kann Ihnen nichts mehr tun."
Mühsam wandte sie ihren Blick hinauf zu dem Gesicht, das noch immer über ihrem schwebte. Ein freundliches Gesicht mit freundlichen blauen Augen, die sie aufmerksam musterten. Und noch immer ruhte die Hand an ihrer Wange.
„Der Schmerz wird gleich nachlassen und wir bringen sie ins Krankenhaus."
Sie wollte widersprechen, doch auch ihre Zunge wollte nicht reagieren. Sie fühlte sich seltsam schwer an. Ihr ganzer Körper war schwer und gleichzeitig unheimlich leicht.
Etwas Wichtiges war da irgendwo inmitten all dieser Fragmente. Etwas das sie unbedingt wieder finden musste. Sie wusste nur einfach nicht was.
Da war nur das dringende Gefühl eine Frage zu stellen, die sich aber nicht klar heraus stellen wollte.
Sie bekam keine Gelegenheit danach zu suchen. Da war wieder die Dunkelheit, die sich nach ihr ausstreckte. Und auch wenn sie sich verzweifelt zur Wehr setzte, so kam sie doch nicht gegen sie an.
„Sie wacht auf." Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden vernahm sie diese Worte während sie sich mühsam aus der Benommenheit hervor kämpfte. Ihr Kopf dröhnte. Und sie wagte nicht die Augen zu öffnen weil sie gar nicht herausfinden wollte, was dann geschah.
„Miss Pearce?", fragte eine dunkle Männerstimme. Sie konnte spüren wie jemand an ihre Seite trat.
„Mhm.", machte sie vorsichtig.
„Mein Name ist Kay Lester. Ich bin Kommissar der hiesigen Region."
Nun versuchte sie doch die Augen zu öffnen, bereute es allerdings sofort. Siedend heiß schoss der Schmerz durch ihren gesamten Kopf, schien ihren Schädel von innen heraus sprengen zu wollen und ließ ihre Augen tränen.
„Lassen Sie die Augen ruhig geschlossen.", sagte der Kommissar ruhig.
„Meinen Sie Sie können mit mir reden?"
„Ich...versuche es."
Ihre Stimme klang dünn und strapaziert. Und sie hatte einen furchtbar trockenen Hals.
„Warten Sie. Hier steht etwas zu trinken."
Sie spürte wie etwas gegen ihre Lippen stieß und öffnete sie instinktiv. Ein Strohhalm. Gierig trank sie bis das klassische Geräusch ertönte, das verkündete, dass das Glas leer war.
„Ich besorge Ihnen gleich noch etwas mehr. Können Sie mir sagen, woran Sie sich erinnern können?"
Sie dachte nach. Alles lag hinter einer dichten Nebelwand, die nur hie und da von einem Bildfragment durchbrochen wurde, das auftauchte und sofort wieder verschwand.
Sie berichtete stockend von dem Auftrag. Der leeren Halle. Dem Tisch, auf dem Papiere auf sie gewartet hatten. Der Text und dann?
Mehr war da nicht. Nur der plötzliche Schmerz an ihrem Hinterkopf und....Dunkelheit.
Mühsam öffnete sie die Augen wieder. Dieses Mal ging es ein wenig besser, auch wenn sie das Licht noch immer schmerzte.
Der Mann, der da an ihrem Bett stand, hatte ernste Züge, die von wachsamen und gleichsam mitfühlenden Augen beherrscht wurden.
Er musterte sie aufmerksam. Behielt sie genau im Blick und doch hatte sie nicht das Gefühl als wolle er herausfinden ob sie ihn belog. Viel mehr fühlte sie sich beschützt von diesem fremden Mann.
„Ich war dort.", sagte er und suchte ihren Blick. „Ich war daran beteiligt sie dort raus zu holen."
„Was....ist passiert? War das wirklich Tylor?"
Er zögerte. Und dann war mit einem Mal die dringliche Frage wieder da, die in ihren tiefen gelauert hatte. Und vor deren Antwort sie sich so sehr fürchtete.
„Was...ist mit Mick?"
Sie konnte es an seiner Miene ablesen noch bevor er gequält die Augen schloss. Ein Bild tauchte vor ihrem Inneren auf. Hinter dem Polizisten, der Tylor zu Boden gerungen hatte, hatten weitere gestanden. Um etwas herum. Um Jemanden herum.
„Wo ist er?", wollte sie wissen. Ihre Stimme brach. Sie kannte die Antwort. Darum hatte sie sich nicht daran erinnern können. Darum hatte sie es nicht gewagt, die Frage zu stellen. Sie konnte es an seinem Gesicht ablesen.
„Miss Pearce.", begann Kommissar Lester und räusperte sich. „Es tut mir sehr Leid aber...Mister Mick Summers ist leider verstorben."
Leere. Ihr Körper schaltete einfach ab und verdrängte den Schmerz einfach mit einer wohltuenden Leere. Nicht spüren. Nichts begreifen. Kein Schrecken. Kein Schmerz.
Still hörte sie zu wie er ihr von den bisherigen Ermittlungen berichtete. Dass ihr Gefühl sie bei Micks neuem Freund offenbar nicht getrogen hatte. Er hatte nur an den Verlag heran gewollt. Hatte Mick zunächst nur benutzt, nachdem er sie, Sevil, nach einer Verlagsfeier über Wochen hinweg beobachtet hatte.
Offenbar hatte er bereits mehrfach versucht mit dem Verlag, für den sie arbeitete, in Kontakt zu treten und war abgewiesen. Allerdings nicht etwa, weil die entsprechende Sparte fehlte, er hatte sich an mehreren verschiedenen Genre versucht, doch seine Werke waren nie überzeugend gewesen.
„Das verstehe ich nicht.", murmelte sie rau. „Ich habe eine Probe gelesen und sie war...fantastisch."
„Weil nicht er sie geschrieben hatte.", klärte der Kommissar sie auf. „Offenbar hat ihr Freund es Ihnen nie erzählt aber ER hat das geschrieben."
Sevil schluckte. Lauschte und versank immer mehr in der Finsternis, die sie mit betäubenden Armen willkommen hieß.
Schon seit ein paar Wochen hatte Tylor Micks Werke als die seinen ausgegeben und an den Verlag geschickt. Und offenbar war Mick letztendlich, vielleicht durch ihr offenes Misstrauen, stutzig geworden. Vielleicht war er dem Anderen auch anders auf die Schliche gekommen. Das konnte, solange Tylor weiter schwieg, nicht nachvollzogen werden.
Am Abend, an dem sie die Stadt verlassen hatte, war es zum Streit zwischen dem Paar gekommen. Einem hässlichen, brutalen Streit, der Mick das Leben gekostet hatte.
Sie registrierte diese Information ohne sie wirklich wahr zu nehmen.
Mick war tot. Es war sein regloser Körper gewesen, um den die anderen Polizisten herum gestanden hatten.
Und sie? Auch sie hatte sterben sollen. Doch Tylor hatte sich mit seinem Schlag verschätzt. Sie war nicht schnell wieder aufgewacht. Und in der Zwischenzeit hatten alle Computer sämtlicher Leitstellen verrückt gespielt. Hatten immer und immer wieder die Adresse der alten Fabrik signalisiert, bis gleich mehrere Einsatzkräfte sich auf den Weg machten um der Sache auf den Grund zu gehen.
Auch das registrierte sie ohne es wirklich wahr zu nehmen.
„Was....geschieht jetzt?", wollte sie tonlos wissen.
„Jetzt. Werden Sie sich erholen. Ihnen kann nichts mehr passieren."
Beinahe hätte sie aufgelacht. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Doch sie schwieg.
„Darf ich die Stadt verlassen?"
Er zögerte. Eine ganze Weile stand er da und sah auf sie herab. Betrachtete die so gebrochen wirkende junge Frau, die da teilnahmslos im Krankenbett lag und gegen die Wand starrte. Vermutlich ohne irgendetwas wahrzunehmen.
„Sobald der Arzt das okay gibt, können Sie gehen. Aber sie sollten sich für eventuelle Rückfragen zur Verfügung halten."
Sie nickte.
„Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann?"
Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann ihre Wange hinab ohne dass sie darauf reagierte.
„Nein.", hauchte sie so leise dass er sie beinahe nicht verstanden hätte. „Es gibt niemanden mehr."
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Scambled Papers
FanfictionAls ihr Bruder Michael bei einem mysteriösen Autounfall stirbt, begibt sich Sevil auf die Suche nach der Wahrheit. In Duskwood gerät sie in die verworrenen Geschehnisse einer Gruppe von Freunden hinein, denen Michael zuvor nach aller Kraft zu Helfen...