Kapitel 32- Entkommen

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32- Entkommen

Sie zuckten alle gleichermaßen zusammen als das Telefon, das vor Thomas auf dem Tisch lag, zu klingeln begann.
Wie zur Salzsäule erstarrt saß er da und starrte es an, als wüsste er nicht was er damit nun anfangen sollte.
„Geh ran.", riss Jake ihn aus seiner Starre und erhob sich gleichzeitig ums ich an seinen Computer zu begeben.
„Stell auf Lautsprecher."
Auf das was nun folgte, war niemand vorbereitet. Und sie alle durchfuhr es wie ein Schock als im nächsten Moment ein hektisches Atmen versetzt mit Schluchzern den absolut stillen Raum erfüllte. Gefolgt von einer gepresst klingenden Frauenstimme, in der eine solche Furcht mitschwang, dass sie beinahe körperlich zu spüren war.
„Thomas?"
Jakes Kopf zuckte herum und fixierte das Telefon.
„Hannah?", stieß Thomas aus.
„Hilf mir.", wisperte sie und ihre Stimme brach. Ging in haltloses Schluchzen über. Sie standen alle unter Schock, das war deutlich zu sehen. Niemand regte sich und Sevil, die ahnte was als nächstes geschehen würde, beugte sich rasch vor.
„Hannah, hier ist eine Freundin. Weißt du wo du bist?"
Stille. Hektischer Atem. Ein unterdrücktes Schluchzen.
„Sie kommen.", flüsterte sie und der Klang dieser Worte jagte ihnen mehr Angst ein als alles andere.
„Wo bist du?", rief Thomas. Die nackte Angst hatte sein Gesicht verzerrt während auch die Anderen sich regten. Aufgeregt. Ängstlich. Und so grauenvoll machtlos. Nur Jake schien endlich wieder zu sich gekommen zu sein. Er tippte eifrig auf der Tastatur und Sevil hoffte dass er genau das tat, was sie vermutete.
„Im...im Wald", gab die zitternder Frauenstimme kaum hörbar zurück. „Bitte. Bitte sie kommen. Ich kann nicht zurück. Sie bringt mich um."
Ihre Stimme überschlug sich, brach. Dann drangen anderen Geräusche durch das Gerät. Noch entfernt und dennoch überdeutlich.
Ein Johlen, Rufen, hässliches Gelächter und etwas, das verdächtig nach Schüssen klang.

Dieser Lärm musste früher oder später auffallen. Es sei denn...
„Hannah.", sagte Sevil erneut. Sie gab sich Mühe damit ihre Stimme ruhig klang. Versuchte der Anderen ein wenig Kraft zu spenden. „Such dir ein Versteck. Und lass das Telefon an. Hörst du? Lass es um jeden Preis an."
„Der Akku ist fast leer.", kam es dünn zurück.
Das Johlen war nun deutlicher zu hören.
„Such dir ein Versteck.", wiederholte Sevil nun eindringlich. Sie fühlte sich überfordert und hatte keine andere Wahl als sich auf ihre Instinkte zu verlassen. „Bleib da drin, verhalt dich ruhig und rühr dich erst wenn du ganz sicher sein kannst dass wir bei dir sind. Verstehst du mich?"
Stille. Nur der hektische Atem. Das näher kommende Johlen ihrer Verfolger. Aber da war noch etwas.
Gebannt spitzte sie die Ohren und beugte sich noch etwas weiter vor.
Lief Hannah? Es klang beinahe so. Das rythmische Rascheln, hin wieder ein Kratzen als ob kleine Äste über einen Widerstand schabten. Ein leises Rumpeln und eine Schrecksekunde dachte sie, Hannah hätte das Handy fallen lassen.
„Ja.", hauchte sie dann in den Hörer und Sevil atmete auf.
„Gut. Lass das Handy so lange wie möglich an aber rede nicht."
Sie spürte die Blicke der Anderen auf sich, konnte Jakes fiebriger Konzentration beinahe spüren.
„Hab's fast.", murmelte er.
Ein lautes Krachen drang durch den Hörer und ließ sie alle zusammen fahren. Doch Hannah hektisches Atmen war nach wie vor zu vernehmen.
„Das machst du gut, Hannah.", redete Sevil einfach weiter damit die Andere wusste dass sie noch immer da waren. Dass sie nicht allein in dieser Hölle saß.
Hannah antwortete nicht. Ihre Verfolger mussten ganz nah sein.
„Wenn das Handy ausgeht bleibst du in deinem Versteck.", schärfte Sevil ihr ein. „Wir kommen, das verspreche ich dir und wir bringen dich in Sicherheit. Deine Freunde sind alle hier."
Und als wäre dies das geheime Signal gewesen, brach die Verbindung ohne Vorwarnung einfach ab.
Ein kollektives entsetztes Stöhnen ging durch die Gruppe, das nur von Jakes ungehaltenem Fluchen durchbrochen wurde. Ungehalten schlug er mit der Faust auf den Tisch.
„Ich konnte es eingrenzen aber nicht annährend ausreichend. Wir brauchen Hilfe. Packt zusammen, wir gehen. Die Polizei informiere ich gerade."

Niemand erhob Einwände. Eine pulsierende Energie breitete sich zwischen ihnen aus während sie, mehr kopflos als überlegt, alle hinaus stürzten und sich auf die Wagen verteilten.
Jake glitt hinter das Steuer des Jeeps und gab Gas während Sevil mit jagendem Herzen neben ihm saß und den Wald immer näher kommen sah. Als würde er jeden Moment einen monströsen Schlund öffnen und sie alle verschlucken.
Sie rasten nicht lange über die nächtlichen Straßen und doch kam es ihr vor eine halbe Ewigkeit. Sie konnte fast körperlich wahrnehmen wie ihnen und vor allem Hannah die Zeit davonrann.

„Kleine Gruppen aber in Rufnähe!", wies Jake sie alle an. Von seiner ruhigen Gelassenheit, die er meistens an den Tag legte, war nichts mehr da. Er war ebenso fahrig und aufgeregt wie sie alle. Und doch belang es ihm zumindest stückweise einen kühlen Kopf zu bewahren.
„Sevil du kommst mit mir.", entschied er, was sie bereits erwartet hatte. Cleo und Richy schlossen sich zusammen, Dan trat an Jessys Seite und Lilly griff bebend nach Thomas Hand.
Traten sie in die Dunkelheit und wurden nur wenig später tatsächlich von ihr verschluckt.
Sie riefen nicht. Zumindest nicht im ersten Moment. Viel mehr lauschten sie alle nach den verräterischen Anzeichen von Hannahs Verfolgern, die sie zuvor durch das Handy hatten hören können. Doch da war nichts.

Kein Johlen. Keine Schüsse. Nicht einmal ein einziges verdächtiges Knacken im Unterholz. Und dennoch waren sie alle stumm. Sevil nahm ihren Mut zusammen.
„Hannah!"
Ihr eigener Ruf erschreckte sie ungemein, doch es zeigte den gewünschten Erfolg. Nach und nach. Erst zögernd und vorsichtig, erklangen die Rufe des Anderen, die die Distanz zwischen einander nun auch endlich ausweiteten. Immer wieder warf Jake hektische Blicke auf sein Handy, dessen Licht inmitten der beinahe absoluten Dunkelheit des Waldes einem Leuchtfeuer gleichkam. Wie lange sie umherirrten, wie lange sie riefen, konnte im Nachhinein niemand mehr so genau sagen.
Irgendwann konnten sie weitere Stimmen vernehmen. Tief und Dröhnend. Lichter durchschnitten die Dunkelheit, teilten sie und offenbart ihre Umgebung. Doch sie waren noch entfernt und niemand von ihnen wollte umkehren.
Die Polizei war da.
War ihnen dicht auf der Spur und, wie sie alle hofften, schlug auch noch den letzten der Verfolger endgültig in die Flucht.

Und dann drang ein Schrei durch die Nacht. Aufgeregt, erstaunt. Sevil und Jake fuhren herum. Unweit von ihnen konnten sie sehen wie Lilly losrannte. Thomas folgte nur einen Wimpernschlag später. Im ersten Moment erschloss sich ihnen der Grund dafür nicht, bis ein Lichtstrahl auf eine Gestalt fiel, die schwankend auf sie zu stolperte, strauchelte aber ohne zu fallen weiter lief. Ungelenk und steif, geschwächt und deutlich mitgenommen aber lebend. Und frei. Im nächsten Moment trafen Hannah und Lilly aufeinander. Verschmolzen zu einem einzigen, bebenden Knäul, das von Thomas nur noch ergänzt wurde.
Dann brachen die Beamten aus der Dunkelheit hervor und tauchten alles in künstliches, gleißend helles Licht.
Die Gruppe schloss ihre Reihen. Selbst Dan verlor für einen Moment seine distanzierte Art und fügte sich zu der einzigen, riesigen Umarmung.

Nur Jake und Sevil blieben ein wenig abseits stehen und beobachteten wie die Gruppe sich gegenseitig hielt und stützte. Sie lauschten den vielen Worten der Erleichterung und dem Schluchzen, dessen Ursprung man bald nicht mehr genau erkennen konnte. Irgendwie weinten sie nun alle. Manche mehr, manche weniger.
Und dazu die Polizisten, die ihnen allen einen Moment gaben, aber die Umgebung sicherten. Hätten sie auch nur geahnt wie nah die Bedrohung noch war, sie hätten sich mehr in Acht genommen. Doch niemand rechnete damit.

Nach einer ganzen Weile lösten sie sich nach und nach voneinander und plötzlich standen sich Jake und Hannah gegenüber. Dreckig und mit verweintem Gesicht starrte sie ihn an, dann zog sie ihn an sich und hielt ihn fest, währender einfach nur da stand und nicht so recht zu wissen schien wie er reagieren sollte.

Lilly erschien an Sevils Seite und ergriff ihre Hand. Ihre Finger waren eiskalt doch sie lächelte unter Tränen und unwillkürlich musste die Brünette dieses Lächeln erwidern.
Es waren weniger Polizisten als sie angenommen hatte, fiel Sevil war. Fünf Männer, in Uniform, die sie nun dazu drängten den Wald vorerst zu verlassen und über Funk Verstärkung anforderten. Bald würde es hier nur so wimmeln vor Menschen. Und sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass sie die Schuldigen finden würden.
„Hier lang.", sagte jemand zu den beiden Frauen und immer noch benommen von den Ereignissen folgten sie der Aufforderung und setzten sich, wie die Anderen auch, in Bewegung.

Jake, noch immer ein wenig verwirrt, ließ es zu dass Hannah sich an seinen Arm klammerte während sie dem Waldrand zustrebten. Aus dem Augenwinkel konnte er Sevils rotbraunen Haarschopf ausmachen, was ihn auf eigentümliche Weise beruhigte. Thomas, zu Hannahs anderer Seite, hatte ihre Hand ergriffen und hielt sie fest, als könnte sie ihm jeden Moment wieder entrissen werden.
Direkt hinter ihnen gingen Dan, Richy, Cleo und Jessy. Allesamt stumm. Betäubt.
Sie hatten Hannah gefunden. Sie waren in Sicherheit. Alles war in Ordnung.
Dieser Alptraum stand kurz vor seinem Ende.
In der Ferne war Blaulicht zu sehen und der leichte Wind schickte das Heulen der nahenden Sirenen voraus.
Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen als er sich vorsichtig von Hannah löste und sie sofort nachfasste. Um ihn nicht von seiner Seite zu verlieren.
„Alles ist gut!", versprach er ihr und wandte sich um.
Dann schwand sein Lächeln. Nahm das warme, herrliche Gefühl mit sich, das sich gerade erst in ihm ausgebreitet hatte und öffnete der eisigen Kälte der Angst abermals die Tür.
Hinter ihnen gingen noch immer Cleo, Jessy, Richy und Dan. Dahinter hätten Lilly und Sevil sein müssen. Doch von den beiden Frauen war weit und breit nichts zu sehen.

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