(29) Klarheit

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Astrid

Das Morgenbleich hielt die Sterne versteckt, spannte sich in jugendlicher Unschuld über die Giftfratzen, die Würgeleiber, unseren Kriegsrat.
Des Himmels Friedensgebot. Verstecken, was Gewissheit geben sollte.

Ich erkannte sie trotzdem, die unzähligen Silberfeuer. Spürte sie über uns wachen, vernahm ihre Kraft zwischen Moira und Nachtblitz, fühlte Selmas Strahlen, wusste, dass sie nicht allein waren, nie allein waren.

Und solange ich ihn nicht ansah, die Hand nicht auf gelb-schwarze Streifen legte, war ich es auch nicht. Hatte ich sie bei mir. Hier, heute, morgen, überall. Für immer. Hoffentlich.

Sie war aus dem Monster erwacht, das den Schmerz des Knochenbruchs absorbierte, ihn nicht in meinen langsam klärenden Gedankenweiher tropfen ließ. Sie hätte es laufen, hätte es umherspritzen lassen können, hätte das Bild des Grundes auf der kräuselnden Wasserfläche verzerren, zersplittern, zerrütten können. Dürfen.
Aber sie hielt es sauber, obwohl sie sah, was der Schlammfilm in den Felsuntergrund nagte.

Steinregen und Regenblut und Blutpfützen und eine Drachenjägerleiche.

Sturmpfeil wollte nicht, dass ich starb, doch sie akzeptierte meinen Entschluss. Auch, wenn jeder Rauchfaden wusste, wie ich ihn womöglich zu bezahlen hatte.
Sie war da, würde bleiben, wenn ich Enars Schädel spaltete oder bei dem Versuch ihren Spuren folgte. Ihr Einverständnis merzte jedes Gegenargument aus.

Ich brach die Stille.
„Wir haben einen Plan. Wir haben ein Ziel. Worauf warten wir?"

Darauf, dass ich meine Meinung änderte.

Sie brauchten nichts zu sagen, die Gedanken flüsterten durch ihre Augen.
Ich sah zu Hicks. Keine Schuldgefühle krochen in mein Herz, keine Wut, keine Angst. Er wusste, dass die Entscheidung allein bei mir lag. Ich musste mich nicht entschuldigen, nicht rechtfertigen. Es gab nichts zu verhandeln. Dieses eine Mal nicht.

Auch wenn sein Anblick Schwärme an Gegengründen vom Ufer des Weihers aufstoben ließ.

Natürlich, ich würde es bereuen, würde tausendfach um Vergebung bitten, den Ozean mit meinen Tränen speisen. Aber nicht für den Beschluss, sondern für mein Scheitern, meinen Tod.

Ich würde sie alle vermissen.

Oh, ich würde mich dafür verdammen, sie so brutal verlassen zu haben, Hicks solchen Schmerz aufzuerlegen, ihm nur Ohnezahn als Familie zu lassen. Und Heidrun? Raff, Taff? Fischbein? Rotzbakke? Moira?
Sie verdienten es besser, jeder von ihnen.
Und Sturmpfeil wollte dieses Risiko nicht.
Was war mit Wilfriede dort? Wollte ich diejenige sein, die ihr zum zweiten Male und endgültig den Schrecken der Welt offenbarte?
Wollte ich sie ihrer Glückseligkeit berauben?
Ich wusste doch, wie sehr es wehtat. Wie es von innen mit schartigen Klauen schlitzte, wie es ätzte und fraß. Hicks wusste es.
Ich konnte sie nicht dazu verurteilen. Niemanden.
Und Sturmpfeil wollte das nicht.
Nichts davon.

Aber dennoch:

„Wenn ich es nicht tue, gräme ich mich ins Grab."

Die Wahrheit, jetzt kannten sie sie.
Die Wahrheit, weil ich ihnen nichts Falsches geben wollte.
Die Wahrheit, weil Lügen die Seele verrotten ließen. Oder das, was von ihr übrig war, was die Trauer nicht verdaut hatte.

Ich würde mich ihr hinterherschwingen, mich im Gelb ihrer Augen spiegeln, sie wieder in die Arme schließen. Wenn nicht heute, dann in wenigen Wochen.
Für Moira und mich war dieser Kampf entweder der Untergang oder die Rettung.
Ich wusste es, sie wusste es, Nachtblitz wusste es. Vielleicht sogar Selma.

Hicks mahlte mit dem Kiefer,  ehe er den Mund öffnete und die geschliffenen Worte freigeben wollte.
Er würde mich nicht umstimmen können.

„Nein. Kein Wort mehr dazu. Sie hat alles gesagt.", zischte Moira ihn an. „Jede Sekunde, die für diese Diskussion verwendet wird, kann die entscheidende sein, die zum Überleben fehlt. Das gilt nicht nur für Astrid, das gilt für alle von uns."

Sternenfluch - Segen der FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt