(37) Schicksalswende

9 0 2
                                    

Selma

Ragnarök. Dies war der Name, den die Wikinger diesem Tag zugeschrieben hatten, als sich vor Jahrhunderten die Überlieferungen mit ihren Mythen verwoben. Sie glaubten an Thor und Odin, an die Götter und Walhalla, denn die Zeit hatte aus Taten Personen geboren und aus Menschen Gottheiten.
Heute war das Meer blutgetränkt und Feuer flüssig. Heute spukte die Erde Glut und der Urdrache Eis.
Der Wendepunkt zwischen Alt und Neu, die Verbindung von Untergang und Beginn.
Ragnarök. Das Schicksal der Götter.

Ich spannte einen neuen Pfeil ein. Einhundert waren es gewesen, dreiundzwanzig verblieben.
Zweiundzwanzig, schnurrte die Sehne, während Licht von meinen Fingerspitzen entlang der Federäste zum Schaft und in die Maserung bis vor zur Spitze floss. Sie hatten es Erfüllungsschimmer genannt, dieses Licht, das einen umgab, wenn man seinen lang vorgemerkten Platz im Gefüge des Schicksals einnahm. Ein Schimmer, kaum mehr als ein leichter Schleier aus Licht. Ein rares Phänomen, denn selten waren Bestimmungen kräftig genug, um sich zu zeigen. Meist kamen sie nicht über das Herz ihres Trägers hinaus.

Dies hier war kein Schimmer, es fiel vielmehr in die Ordnung des Strahlens. Erfüllungsschein. Und was sich davon auf die Pfeile abzweigte, ihre Flugbahn und Treffpunkte genauestens festlegte, war Bestimmungslodern.
Ja, es hatte für alles ein Wort gegeben, so wie es für alles eine Zeit gab.

Jetzt war die Zeit, die dem Bernsteinklang den Himmel zurückgab.

Er hatte die Qualmdrachen nicht getroffen, der Bernstein schwamm im Meer, Gold in Rot. Das Leuchten hatte ihn abgelenkt, geblendet, auch wenn seine Stimme noch immer die Melodie zum Vulkandonner sang.
Wir landeten. Niemand hielt uns auf, ihnen allen hatten Lichtpfeile die Herzen durchbohrt, selbst der dicksten Rüstung. Jeder Panzer besaß Spalten.

Ich senkte den Bogen, schickte meine Botschaft los.
Er- Sie, es war ein Weibchen, schreckte zurück, stolperte in die Ketten. Ich wiederholte es, wieder, wieder, erneut. Bernstein hagelte auf die bereits krustigen Planken, über schon eingeschlossene Körper. Sie war jung und verängstigt, einsam, die plötzliche Berührung ihrer Seele überforderte.

Doch sie besaß Mut, genug, um jedes Maß zu sprengen, stellte ihre Schüsse ein, ließ mich zu ihr. Das Metall hatte Schuppen abgescheuert, rosawunde Haut lag unter den Kanten.

Die Qualmdrachen übernahmen. Metall schmolz, Glieder zersprangen, die letzte Kette klirrte zu Boden.
Sie sah mich an, ihr Blick fand durch das Glühen, die Schuppen glänzten in jeder ihnen bekannten Nuance.

Zu Astrid.

Schnauben. Für sie gab es keine Namen, sie hatte nie einen besessen, nie einen gekannt. Aber der Gedanke an dieses Wesen war ihr vertraut, vage. Schon schickte sie mir ihr Empfinden, auf dass ich es verglich.
Unbändige Wut, nie ruhende Erinnerungen, Sorgen, so viele Sorgen, und eine Leere, tief, zu tief, um sich durch Hass und Schuld und Umarmungen füllen zu lassen.
Sie wollte zu ihr. Zu diesem Blick, der auf ihr geruht hatte, als die keifenden Krieger sie in Ketten legten, dieser Blick, der darum flehte, nicht zu vergessen, nicht zu brechen. Durchzuhalten, weil sie kommen würde. Ein Versprechen von Hoffnung. Auch wenn sie es noch nicht gewusst hatte.

Sie wusste, wen ich meinte.

Eleganter Sprung, die Schwingen streckten sich der Freiheit entgegen, fingen den kräftigen Wind und schlugen, schlugen mit aller Kraft, die man anzubinden ersucht hatte. Die Narben und Furchen verschwammen in Höhe, verwischten im Wind, bis nur die Pracht ihrer Farben blieb. Alsbald schwang sie sich herum, folgte der Richtung, die ich ihr gewiesen hatte.

Diese Sirene hatte genügend Reisende in die Tiefe geführt. Die Wege waren ihr vertraut, womöglich in einem Maße, das ihr erlaubte, nun jemanden an die Oberfläche zu geleiten.

Sternenfluch - Segen der FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt