(27) Versuchung

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Hicks

Der Himmel tötete die Zeit. Hing die Körnchen des zersprungenen Glases in die Luft, formte aus ihnen Körper, Menschen, Drachen, nannte sie Astrid, nannte sie Schnüffler, Fischbein, Fleischklops, Hakenzahn, Rotzbakke. Knetete Zwillingsfigürchen, einen Dieb, einen Zipper, Klingenpeitschling und Kapuzenmädchen, schnitzte einen Nachtschatten und einen Einbeinigen.
Betrachtete amüsiert, wie sie umherpendelten, kreisten, kleine Rädchen ohne Sinn, wundernd, weshalb sie nicht vorankamen.
Er ließ sie tanzen, weiter, schneller, ließ sie vergessen, nahm das Ziel, ließ den Weg.

Atemfressende Eintönigkeit. Hirnschmelzendes Verlockungsplärren. Ich sah Astrid nicht mehr. Wieder dorrten meine Augen aus, das Tuch vor Mund und Nase wollte mich lieber erwürgen als schützen.

Und immer weiter schwang der Himmel seine Fäden, immer weiter wogten die Körner. Kein Ende.

Ich sollte bei Astrid sein. Dafür sorgen, dass sie sich in diesem zerfasernden Nichts nicht selbst verlor. Wenigstens einen mentalen Halt schenken, während die Welt verdunstete.

Stattdessen klammerte ich mich an Ohnezahns rhythmischen Bewegungen fest, versuchte, nicht zu hoffen, im nächsten Atemzug zwischen zwei Steinfronten zermahlt zu werden, um der Monotonie zu entfliehen.

Ohne Sinn. Zielverloren. Steter Kreis. Fadenreigen.

Ich hoffte es. 

Zehn Schläge vorwärts. Graues Nichts. Totenbleiche Aschetupfen.

Vorwärts. Grau. Weiß.

Allein in der Unendlichkeit. Meine Freunde mussten in der Nähe sein, aber sie waren nicht da, nah und fern in einem, dröselten zu Verstandsgespenstern.
Aber sie mussten. Müssten die Flügelschlagswinde spüren.

Niemand hier. Nur Krächzen, Gestank, Feuerbleibsel.

So musste Astrid sich fühlen. An Einsamkeit und Gesellschaft gleichermaßen erstickend. Zu viel gefüllte Leere, zu wenig Zeit zur Flucht und dann gefangen.

Wenn ich das Tuch abnahm, vielleicht hörte jemand das Husten. Vielleicht gäbe es eine Antwort.

Nein, gäbe es nicht. Der Todsinger zerschlug die Töne vorher.

Was tat ich hier überhaupt? Moira und Nachtblitz waren ihm sicher längst auf den Leim gegangen, andernfalls hätte jemand sie bereits finden müssen. Jeder weitere Atemzug konnte das Signal zum Ersticken sein, die Hitze fraß sich langsam ins Wachs, lockerte es, trieb uns Tropfen für Tropfen in die Verdammnis. Und wenn ich vorhin noch glaubte, der Gesang könne uns leiten, so drohte ich nun, in ihm zu ertrinken. Überall war er, dicht gewebter Teppich, gedankenzertrümmernd laut, nahm kein Ende, kannte keinen Anfang.

Ich versuchte, die Flugrichtung des nächsten Eisenklumpen zu bestimmen. Am Ende lag ein Schiff, am Ende gab es Licht und Luft und Leben, harte Realität. Besser als Qualmgespinste.
Dann überholte uns eine Feuerkugel und meine Orientierung brutzelte erneut zu schrumpligen Knollen.

Vermutlich war es besser so, was hätte es auch gebracht? Sobald ich den Rauch überwand, würden sie mich zerfetzen, ich würde uns beide ausliefern. Lieber verdarbte ich im Giftdunst, als Ohnezahn das anzutun.

Es donnerte, die Gasschlacke erbebte. Schwarze Schlieren spülten über uns hinweg, Ohnezahn drehte sich panisch, versuchte, uns mit kraftstrotzenden Schüben von den Schattenwülsten fort zu sprengen. Seine Bemühungen kenterten krachend in einem Strudel rußtrunkenen Flammenschutts.
Er brüllte frustriert auf, ich spürte, wie er verzweifelt den Kopf schwenkte, den Dunkelheitsschleier abzuschütteln suchte. Wieder schrie er, flatterte ängstlich vor, fuhr herum, wich zurück.

Sternenfluch - Segen der FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt