Hoher Besuch

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Nach dem anstrengenden Vortag war die junge Halb-Äthiopierin froh, dass der Wecker an diesem Morgen etwas später klingelte. Ihre Freunde waren bereits alle aus dem Haus und auf dem Weg ins Fitnessstudio, wo sie ihre Muskeln und ihre Ausdauer für die langen Stunden auf der Bühne und beim Tanztraining stählten, denn im Gegensatz zu Jenny musste das Ensemble nicht nur singen, sondern auch tanzen und schauspielern. Jenny hingegen musste erst kurz nach Mittag wieder ins West-End und war froh, den Tag etwas ruhiger angehen zu können. Am Abend zuvor war sie, nachdem sie Backstage eingeschlafen war und auch in der U-Bahn das eine oder andere Mal weggenickt war, buchstäblich ins Bett gefallen und hatte es gerade noch geschafft, sich wenigstens Schuhe, Hose und Oberteil auszuziehen, bevor ihr die Augen endgültig zufielen. Jetzt war es kurz nach acht Uhr morgens und Jenny schlurfte gähnend, aber ohne Zeitdruck ins Badezimmer, wo sie endlich einmal so viel Zeit verbringen konnte, wie sie wollte. Normalerweise wäre sie auch an solchen Tagen mit den anderen ins Fitnessstudio gegangen, aber da die nächsten Wochen stressig genug werden würden und Freizeit wohl ein Fremdwort für sie sein würde, hatte sie beschlossen, dass es besser war, diese freien Stunden zu genießen. Außerdem musste sie sich um 10 Uhr vor den Bildschirm ihres Tablets setzen, um mit Elizabeth, der Kreativdirektorin der Show, zu sprechen und sie über die vorläufigen Pläne für den Cupcake zu informieren.


"Computer, spiel Jennys Radio", rief Jenny, als sie aus der Dusche kam und ihre nassen Haare zu einem schnellen Dutt zusammenband. Als die WG sich vor einem Jahr einen intelligenten Lautsprecher zugelegt hatte, hatten Reece und Donna es sehr lustig gefunden, ihn darauf zu trainieren, nicht auf die vor eingestellte Aktivierung zu reagieren, sondern wie in alten Science-Fiction-Serien und -Filmen auf ‚Computer' zu hören. Tramaine und Jenny war es egal, wie sie das Ding nannten, solange es funktionierte, und so hatten sie sich nicht dagegen gewehrt.


Der Sender ‚Jenny's Radio' war eine von einem Programm zufällig zusammengestellte Wiedergabeliste von Liedern, die zu den Liedern passten, die Jenny bereits auf ihrer Playlist hatte, und sie musste immer wieder feststellen, wie gut dieses Computerprogramm offenbar ihren Musikgeschmack durch einen einfachen Algorithmus errechnete und ihr immer wieder Lieder vorschlug, die sie entweder gar nicht mehr auf dem Schirm hatte oder die sie noch gar nicht kannte und direkt in ihre Playlist aufnahm. Bis kurz vor 10 Uhr war die Gesangslehrerin gut gelaunt und bereit für die Videokonferenz. Sie war dankbar für die Möglichkeit, während der Konferenz den Hintergrund zu wechseln, denn auch wenn sie sich in dieser WG nicht unwohl fühlte, wollte sie der Kreativdirektorin einer großen Show doch etwas anderes bieten als eine kleine Küchenzeile und ein vergittertes Fenster.


Jenny überprüfte noch einmal die gewählte Kulisse und betrat dann die Konferenz. Obwohl Jenny und Elizabeth die einzigen Teilnehmer der Konferenz waren, wurde Jenny dazu angehalten, Claire nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrer Maske anzusprechen, und es fiel ihr das eine oder andere Mal schwer, nicht zumindest das richtige Personalpronomen zu verwenden und immer daran zu denken, dass Cupcake ein männliches und kein weibliches Personalpronomen hatte.


„Es war sehr schwierig, sich auf Lieder zu einigen, aber kurz vor Schluss konnten wir uns schließlich auf 10 Lieder festlegen." Jenny öffnete parallel zur Konferenz-App eine weitere App, in der sie die Liste der Lieder hatte, die der Cupcake singen wollte und sah den eher skeptischen Blick der älteren Frau auf der anderen Seite. Elisabeth hatte bereits drei Staffeln dieser Show hinter sich und als sie die Songs sah, befürchtete sie, dass diese entweder in die Hose gehen oder super ankommen würden. „Wir haben auch eine lange Liste mit Ausweichsongs, falls wir merken, dass einer nicht funktioniert", bemerkte Jenny, als für einen Moment nichts aus den Lautsprechern kam. „Ja, vielleicht müssen wir das eine oder andere noch einmal überarbeiten.

When words fail, music speaksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt