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Im Angesicht des Augenblicks:
Spätsommer, sechs Monate nach der 1.Begegnung im Café...

Einen Block in der linken und einen Stift in der rechten Hand haltend starrte Amelie gedankenverloren den teuren Anzug hinter dem Schaufenster an.
Er besaß einen eleganten Schnitt, reichte einem normal großen Mann in etwa bis zur Mitte der Oberschenkel, war dunkelblau und von silbernen Knöpfen und einem senfgelben Einstecktuch geziert. Darunter lag ein perlweißes Hemd mit einem hohen Stehkragen, der reichlich mit vielen kleinen Knöpfen besetzt war. Freilich etwas Außergewöhnliches und nicht für jeden Mann bestimmt.
Und zugleich stellte sie sich die Frage, ob er wohl ihm stehen würde.
Sie zuckte ein wenig wehmütig mit den Schultern. Darüber sollte sie gar nicht erst nachdenken.
Was sie gerade vielmehr interessierte war, ob man diesen Anzug nicht noch etwas mehr umgestalten könnte, ihn märchenhafter aussehen lassen könnte.
Prinz Arbulin von Marien, ihr neuer Protagonist aus ,,Wenn der Wind sich dreht" , würde mit Sicherheit gut in diesen Anzug passen.
Also skizzierte sie sich dieses extravagante Kleidungsstück in ihren Block und baute hier und da ein paar kleine Veränderungen mit ein, sodass er schließlich noch viel phantastischer aussah.

Amelie lächelte zufrieden, setzte gekonnt die letzten Striche und ließ erschrocken ihren Block mitsamt Stift fallen, als sie plötzlich etwas warmes und sanftes an der Halsbeuge berührte. Doch die starken Arme, die sich um ihre Taille schlangen, und die raue Stimme, die ihr eine zärtliche Begrüßung zu raunte, beruhigten sie zugleich wieder.
,,Hey", wisperte es liebevoll an ihrem Ohr. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Nein, das durfte nicht sein. Jetzt, nach den letzten Wochen, die sie so unbeschwert verbracht hatte und das ganz ohne ihn.
,,Nein", flüsterte sie heiser. ,,Ich wollte doch Abstand zwischen uns bringen, deine Lippen nicht mehr spüren, dich nicht mehr sehen, dir nicht mehr über den Weg laufen. Und du hast dem zugestimmt."
,,Dann schließe die Augen, Amelie", sagte er und sie tat es tatsächlich.
,,Du musst mich ja nicht sehen."
Seine Arme schlangen sich enger um ihren Körper, drückten sie an sich, als wolle er sie in seine Brust schließen, während seine Lippen schleppend langsam ihren Hals liebkosten.
,,Bitte", wimmerte sie und versuchte all die angestauten Tränen der letzten Wochen zurückzuhalten.

,,Ich vermisse dich, Amelie. Jeden noch so gottverdammten Tag. Deine Stimme, dein Lachen, deine funkelnden, strahlend blauen Augen und deine Wärme neben mir. Komm zurück, zu mir...Bitte Amelie...Ich halte das nicht mehr aus. Jede Sekunde, in der du nicht bei mir bist, raubt mir den Verstand, jegliche Vernunft. Ich erkenne mich nicht wieder, ich drohe unterzugehen. Bitte, Amelie, ich bitte dich, komm zurück."
Trauer schwang in seiner sonst so starken Stimme mit, was sie heiser und brüchig klingen ließ.
,,Jona...bitte...Tu mir das nicht an", flehte sie und biss sich auf die Lippe.
,,Tu du mir das nicht an, Amelie...Tu uns das nicht an..."
Sie erkannte seinen Ernst hinter jedem einzelnen Wort, seine tiefgreifende Liebe und seine unendliche Zärtlichkeit.

Es waren nur sechs Monate gewesen, in denen sie ein solch enges Band geknüpft hatten, drei Wochen später, nachdem sie sich das erste Mal getroffen hatten und der erste Artikel überhaupt über Jona Anderson erschienen war. Es waren sechs Monate voller Liebe, Nähe, Zweisamkeit und Glückseligkeit gewesen. Sie hatte noch nie so viel gelacht, noch nie so viel geliebt und das so vielschichtig, von gemütlichen Spaziergängen in seiner Pause bis zu charmanten Dates am Abend, von schlichten Events bis zu stundenlangen Tänzen auf den schönsten Bällen wie man sie sich nur wünschen konnte, von sanften bis wilden Küssen, vom schlichten Kuscheln auf dem Sofa bis zum gemeinsamen Schlafen im Bett (und das nicht nur nebeneinander wie sie sich im Nachhinein peinlich gestehen musste, sondern Haut auf Haut).
Er hatte sie so viel über die Liebe gelehrt wie es bisher kein anderer zuvor getan hatte (es hatte da aber auch noch nie jemanden gegeben).
Und es war alles so unglaublich schön gewesen, wie ein einzigartiger Traum. Sie hatte sich kein einziges Mal unwohl an seiner Seite, in seinen Armen, an seinen Lippen gefühlt. Er war sanft, unglaublich liebevoll und geduldig mit ihr gewesen, eine wahre Seele, ein Engel auf Erden.

Ganz unbewusst nahm sie seinen Duft in sich auf, diese herbe Würze vermischt mit seinem teuren Oud-Parfum, während sie sich langsam zurückfallen ließ und ihren Kopf mit geschlossenen Augen an seine Schulter legte.

,,Jona...", flüsterte sie.
,,Wieso?", fragte er und schmiegte sachte die Wange in ihr Haar, sodass sie meinte, seine Lippen an ihrer Schläfe zu spüren.

Es war jene Frage, die er ihr nicht das erste Mal stellte. Wie auch das letzte Mal hatte sie keine Antwort für ihn. Keine Antwort auf die Frage nach dem Grund für diesen Abstand zwischen ihnen. Er hatte es toleriert, ihr diesen Wunsch gewährt, auch wenn sie ihm nie einen Grund hatte nennen können. Und das hatte er gewiss nicht verdient.

,,Wieso, Amelie? Jeden Tag stelle ich mir diese Frage, suche nach einer Antwort, aber..." Seine Stimme brach ab und seine Lippen bebten. Das spürte sie. Er schluckte fest und versuchte sich zu sammeln, aber die Träne, die auf ihrem Haar landete, merkte sie.
,,Was habe ich dir nur getan?"
,,Jona...Nein!", entgegnete sie und wandte sich in seinen Armen, um ihm in das Gesicht sehen zu können, das sie zugleich auch in ihre Hände nahm.
,,Es hat nichts mit dir zu tun, hörst du? Es ist nur...Meine Gedanken sind zu mächtig geworden", versuchte sie ihm zu erklären und wischte ihm mit dem Daumen zärtlich über den dichten Wimpernkranz, wo Tränen zurückhaltend im Angesicht der Sonne schimmerten. Jona schlug die Augen auf und sah sie mit seinen moosgrünen Augen forschend an.
,,Und? Konntest du sie ordnen?", fragte er vorsichtig. Amelie schwieg und sah an ihm vorbei.
,,Ich weiß es nicht", gestand sie leise. ,,Es ging mir vielleicht alles zu schnell. Es begann sich zu drehen und mir wurde schwindelig."

Jona schwieg und ihre enzianblauen Augen blickten für einige Sekunden kummervoll in seine moosgrünen Augen, die von einer stillen Tiefe erfüllt waren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste flüchtig seine Wange, ehe sie aus seinen Armen glitt und schnellen Schrittes, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen, hinter der nächsten Ecke verschwand.

Jona blieb allein zurück, die Augen wehmutsvoll auf die Ecke gerichtet. Er ballte die Hand zur Faust, atmete grollend und sich selbst verdammend aus und hob den Block und den Stift vom Boden auf, die Amelie zuvor aus der Hand gefallen waren. Neugierig betrachtete er das Bild darauf, staunte über ihre Zeichenkünste und ihm fiel auf, dass er eigentlich gar nichts über sie wusste. Nur, dass ihr Vater sein Schuster war, ihre Mutter eine ehemalige Schneiderin und dass sie die schönste Frau auf Erden war und ganz nebenbei die lästige Journalistin, die den ersten Artikel über ihn rausbrachte.

In wen hatte er sich da nur verloren?

©Eine Milliarden GründeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt