Retrospektive (anschließend an 2):
(6 Monate zuvor)
noch am selben Abend

Seufzend ließ Amelie sich auf die roten Kissen ihres vintage Sofa fallen, dessen Armlehnen mit braunem Leder überzogen waren.
Nachdem sie in dem Laden ihres Vaters ausgeholfen hatte, war sie schließlich todmüde nach Hause gewankt. Man könnte vielleicht meinen, dass der eigene Vater einen ein wenig verschonte, aber so war das nicht. Im Gegenteil. Das Schlimmste, was es gab, war im eigenen Familienladen auszuhelfen. Es war anstrengend und man wurde hart in die Mangel genommen.

Als freie Journalistin war das Leben für sie schon immer etwas anders gewesen. Sie konnte im Grunde alles Mögliche machen, solange sie genug Geld für ein Dach über dem Kopf und Speis und Trank verdiente. Zusätzlich hatte sie ja auch noch ihre Bücher, die ihr schon das ein oder andere nette Sümmchen eingetragen hatten. Zudem konnte sie immer noch ein wenig Geld bei ihrem Vater verdienen, wenn mal alle Wege in einer Sackgasse endeten. Doch ihr Leben war alles andere als leicht, auch wenn es recht entspannt klang. Ja, sie konnte sich vielleicht manchmal öfters frei nehmen als andere, aber so hatte sie doch auch keine feste Einnahmequelle oder gar einen stabilen Lohn. Auch war das Leben einer Journalistin alles andere als langweilig und ruhig. Sie hielt sich mit den unterschiedlichsten Aufträgen über Wasser. Der Letzte war der Artikel über Jona Anderson gewesen, der ihr für die nächsten drei Monate eine rosige Zeit bescherte.

Der Chef der "High Sociality", der beliebtesten Boulevardzeitung überhaupt, war mehr als nur begeistert gewesen. Er hätte sie am liebsten in seine engsten Kreise aufgenommen und ihr ein ausgezeichnetes Honorar zugesichert. Doch das war nichts für sie. Sie brauchte ihren Platz, ihre Luft zum Atmen.
Nun hieß es für sie aber vorerst einmal: Füße hochlegen und neue Ideen sammeln, hätte sich da nicht ihr knurrender Magen gemeldet.

Stöhnend erhob sie sich wieder von den weichen Polstern ihres bequemen Sofas und schlurfte über den dunkelbraunen, halb ausgelatschten Parkettboden in ihre Küche, in der Hoffnung dort etwas Essbares zu finden. Und das tat sie auch mehr oder weniger. Ein Brot mit Cheddar und ein Glas Wasser dazu sollte es werden und schließlich auch genügen. Sie sollte unbedingt demnächst mal wieder etwas einkaufen gehen, damit sie nicht noch irgendwann verhungern musste, weil ihr Kühlschrank einfach nichts mehr bot.

Auf der hölzernen Arbeitsfläche richtete sie ihr Brot her und schmierte sogar noch etwas Butter darunter, ehe sie sich das Brett und das Glas Wasser schnappte und sich an ihren kleinen Esstisch in der Ecke zurückzog.
Ihre Küche war wirklich nicht groß und bot deshalb keinen Platz für großen Besuch, den sie sowieso so gut wie nie empfing, denn Freunde hatte sie noch nie wirklich viele besessen. Dazu war sie wohl viel zu wechselhaft. Ihr heutiges Wesen glich auf keinster Weise dem gestrigen oder dem davor. Das war eben ihre Art. Mehr gab es dazu auch gar nicht zu sagen.

Ihr Brot stillschweigend kauend, blickte sie aus dem kleinen Fenster zu ihrer Linken, da die Wand vor ihr mit der billigen Kopie von Marc Chagalls blauem Pferd sie nur langweilte. Das Fenster bot ihr aber nicht gerade mehr, außer das heimliche Vorbeiziehen der blassen Schäfchenwolken am güldenen Abendhimmel, die sie eh so gut wie gar nicht mehr hinter dem Dach des anderen Hauses von neben an sah. Dafür konnte sie umso mehr in das Wohnzimmer ihres Nachbarn blicken, in dem gerade der Fernseher lichterloh vor sich hin blinkte. Vermutlich zog sich dieser eine Sitcomedy rein, zumindest verriet ihr das mal die billige Machart. Nichts für sie. Amelie ging nämlich lieber in das Theater oder die Oper, wenn es das Geld erlaubte.

Weil ihr das nervige Geblinke des Nachbarfernsehers gehörig auf den Leim ging, richtete sie lieber den Blick auf die ihr gegenüber gelegene Wand. Das leise Ticken der Küchenuhr rutschte dabei in den Vordergrund. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich einsam und wünschte sich das gemütliche Beisammensein mit ihren Eltern zurück. Ob sie jemals eine eigene Familie hätte? Sie war immerhin schon 24, vielleicht auch bald 25, wenn niemand ihren Geburtstag vergaß, und teilte noch nicht einmal mit einem Freund die Wohnung. Einsam und allein, vermutlich bis der Tod sie von der Erde scheidet. Schöne Scheiße! Doch, was sollte man machen, wenn das Glück einem nicht hold war?

Da fiel ihr mit einem Mal Anderson ein und augenblicklich begann ihr Herz ein klein wenig schneller zu schlagen.
Ob er nun auch so einsam war?
Ihr Bauch kribbelte merkwürdig.
Hatte er ihr nicht eine Karte gegeben? Schnell griff Amelie sich in den rechten Ärmel ihres Pullis, wo sie sie verschwinden hatte lassen. Und wie durch ein Wunder, befand sie sich noch immer darin. Dass sie sie noch nicht verloren hatte, war ihr ein Rätsel. Die Karte hätte ihr nämlich zu jeder Zeit unbemerkt hinausfallen können.
War es etwa Schicksal?

Rasch schüttelte sie den Kopf und dennoch las sie sich die schwarze Visitenkarte mit der goldenen Aufschrift durch. Sowohl Name, als auch Telefon- & Handynummer, E-Mail- und Wohnadresse standen darauf. Es schien seine private Visitenkarte zu sein und nicht die geschäftliche.

Eine Weile wandte sie die Karte in ihrer Hand, ehe sie schließlich ihr Handy hervorholte, es entsperrte und begann, seine Nummer einzutippen, um ihm eine Nachricht zu schreiben. Doch mittendrin stoppte sie, las sich erneut seine Wohnadresse durch und stellte fest, dass er nur eine halbe Stunde zu Fuß von ihr entfernt wohnte.
Wie wäre es mit einem kleinen Abendspaziergang?
Ihr Bauch zog sich zusammen, ob vor Aufregung oder Vorfreude war ihr noch unbekannt. Was sie allerdings wusste war, dass sie ihn heute noch einmal sehen musste. Weshalb war ihr wiederum schleierhaft, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sonst heute Nacht keine Ruhe mehr finden würde.
Mehr Widersprüche als Gründe und doch ließ sie alles stehen und liegen, packte ihre Schlüssel, schlüpfte in ihre ausgetretenen Jucks, zog sich ihre Jacke über und band sich ein Tuch um den Hals.

©Eine Milliarden GründeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt