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Retrospektive:
(anschließend an 28)

Sie saßen in einem kleinen Jazz-Café am Rande der Fifth Avenue, tranken Kaffee und lauschten schweigend der sanften Musik, die das gemütliche Ambiente leise untermalte. Schon eine ganze Weile saßen sie nun an dem runden Tisch und blickten gedankenverloren schweigend aus dem bodentiefen Fenster.

Gelbe Taxis und Passanten passierten die klare Glasscheibe, ohne dass sie mitbekamen, dass man sie von innen heraus heimlich beobachtete. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein bescheidener Blumenladen, dessen bunte Blumen in der zarten Sonne um die Wette strahlten. Eine alte Dame streichelte einem kleinen Jungen lächelnd das Haar und schien ihm etwas über die bezaubernden Pflanzen zu erzählen, denn er hing mit großen neugierigen Augen an ihren Lippen und schien ihr aufmerksam zuzuhören.

Irgendwie erinnerte diese Szene Amelie an ihre eigene Oma, die sie vieles über die Botanik gelehrt hatte. Sie vermisste sie hier in New York sehr.
Neugierig sah sie zu Jona, der den Blick von dem Geschehen dort draußen bereits ab- und sich wieder seinem Panino zugewandt hatte. Ob er auch solch schöne Erinnerungen mit seiner Großmutter teilte?

Einige Sekunden beobachtete sie ihn unauffällig wie er in aufrechter Haltung und maßvollen Bissen sein Essen verspeiste. Selbst in einem einfachen Café wie diesem legte er sehr viel Wert auf sein Auftreten. Oder vielleicht war es vielmehr eine Angewohnheit, die er nicht mehr losbekam?

Weitere Sekunden vergingen, in denen sie ihn schweigend betrachtete. Dabei entging ihr nicht, dass er deutlich blasser war, als bei ihrem letzten Treffen. Zudem waren seine Pupillen verengt und er schien im Allgemeinen sehr erschöpft zu sein, denn sie erwischte ihn dabei, wie er nun zum zehnten Mal in Folge ein Gähnen hinter seiner Hand zu verbergen versuchte. Und da war dieses Tuch an seiner Rechten. Hatte er sich etwa verletzt?

Amelie runzelte missmutig die Stirn. Irgendetwas stimmte doch nicht. Dann schüttelte sie jedoch wieder den Kopf und sagte sich, dass es alles nur Einbildung war.
,,Hast du eigentlich noch Großeltern, Jona?", fragte sie ihn schließlich ganz unverhohlen. Er hob den Kopf und sah sie aus seinen moosgrünen Augen verblüfft an.
,,Ja. Wieso fragst du?"
Ein wenig beschämt blickte sie beiseite. Sie hätte sich denken können, dass diese Frage wie aus dem Nichts zu unerwartet kam.
,,Naja, mit ihnen teilt man schließlich mitunter die schönsten Erinnerungen", erklärte sie und blickte ihn erwartungsvoll an.

,,Ich verstehe. Nun ja, du solltest vielleicht wissen, dass meine Familienverhältnisse ein wenig anders sind, als all die anderen. Während mein Vater keineswegs unter gefestigten Familienumständen aufwuchs, stammt meine Mutter aus einem sehr strengen Haus. Mein Vater verbrachte seine ersten acht Jahre nämlich auf der Durchreise, denn seine Mutter kam aus einer Zirkusfamilie und schien eine begnadete Kunstreiterin gewesen zu sein. Doch als sie einer schweren Krankheit erlag, ging das Sorgerecht an seinen bis dahin ihm unbekannten Vater über. Es stellte sich heraus, dass dieser ein bekannter Psychologe aus London war. Ich weiß nicht, aber sagt dir die Edward Riley Studie etwas?" Amelie überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.

,,Jedenfalls ist es mittlerweile eine der bekanntesten Studien der Psychologie und somit kannst du dir vielleicht vorstellen, dass sich mit dem Tod meiner Großmutter das Leben für meinen Vater drastisch verändert hatte. Der also einflussreiche Edward Riley Anderson stammt aus gutem Hause und so war es üblich, dass Ordnung und Manieren sowie Gesellschaft und Bildung zur Tagesordnung gehörten. Kurz gesagt: Er war zu streng und hatte zu hohe Ansprüche an seinen Sohn. Mein Vater konnte nie ein gutes Verhältnis zu ihm aufbauen und als er schließlich alt genug war, verließ er das Haus und zog sein eigenes Ding durch. Folglich starb der Kontakt nach und nach ab und so kam es, dass ich den Großvater väterlicherseits nur ein, zwei Mal in meinem Leben getroffen habe. Die Eltern meiner Mutter hingegen sehe ich jedes Jahr im Herbst. Das jährliche Familientreffen auf dem Anwesen in Cornwall ist Tradition..." Jona begann breit zu grinsen und lachte.

©Eine Milliarden GründeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt