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Retrospektive:
Sechs Monate zuvor...

Es war ein herrlicher Dienstagmorgen, als Jona Anderson die Straßen der Hudson Yards entlang schlenderte und auf dem Weg zu "Nathan Oxfords" war.
Laue Sonnenstrahlen eines frühen Frühlings schlängelten sich durch die vielen offenen Winkel der Häuser und spiegelten sich an den großen Glasfassaden wider, ließen sie magisch glitzern.

Heute war er mal nicht mit seinem Wagen unterwegs und musste sich deshalb auch nicht durch den regen Verkehr ganz New Yorks kämpfen. Nein, heute ging er zu Fuß, nutzte Bus und Bahn gleichermaßen und tat dabei ganz nebensächlich etwas Gutes für die Umwelt. Außerdem konnte ein wenig frische Luft vor den langen Sitzungen eines neuen anstrengenden Arbeitstages nicht schaden, auch wenn man die hier im Stadtinneren wohl kaum jemals bekommen würde. Doch zwischen drin war es allemal besser nicht die trockene, gefilterte Luft seiner Klimaanlage im Auto zu inhalieren und sich den Hintern während der langen Fahrt platt zu sitzen oder wie man das auch immer bezeichnen mochte.

Jedenfalls war er heute ganz entspannt zu Fuß unterwegs, ohne sich dabei über lästige Drängler, hupende Autos hinter ihm, randalierende Chaoten oder - ganz schlimm - neue Kratzer im Lack aufregen zu müssen. Er konnte sogar, wenn er ganz viel Glück hatte, wenigen Vögeln beim Singen zu hören, die sich ab und zu in den angepflanzten Bäumen neben dem breiten Weg niederließen. Ein wunderschöner Morgen mit der Zuversicht auf schönes Wetter. Besser konnte es doch gar nicht mehr werden. Selbst den langen Besprechungen würde heute, nach seinem ausgiebigen Spaziergang, also nichts im Wege stehen. Seine Angestellten werden sich sicherlich über seine gut aufgelegte Laune freuen.
Und, ehe er sich versah, hatte er auch schon den kleinen, aufgeräumten Laden am Straßeneck erreicht; schneller als mit dem Auto.

Die bodentiefen Fenster glänzten als hätte man sie erst gerade eben geputzt. In goldenen, geschwungen Lettern schimmerte darauf der Namen des Ladens "Nathan Oxfords" und was dieser anbot, nämlich: "Feinste Lederschuhe aus altbewährtem Handwerk".
Das weißgraue Pflaster davor war sauber gehalten und glitzerte heimlich in den Strahlen der Sonne.
Ein kirschroter Teppich war vor dem Eingang ausgebreitet, wirkte stets gebürstet und keinen Tag alt.
Hinter den Schaufenstern schließlich befanden sich feinsäuberlich ausgestellt ein paar einzelne Meisterstücke: Oxfords, Budapester, Chelsea Boots, Derbys und sogar ein paar edle Reitstiefel. Natürlich gab es auch Frauenschuhe, aber die waren für Jona nicht weiter wichtig.

Er hielt sich nicht länger mit der Nase am Schaufenster auf, richtete Mantel und Sakko darunter, drückte die goldene Türklinke der Glastür und betrat den Laden munteren Schrittes. Eine kleine Glocke über dem Eingang kündigte sein Kommen an und zugleich erschallte eine unerwartet weibliche Stimme aus dem Hinterraum: ,,Bin sofort da!"
Es war eine liebliche, glockengleiche Stimme und eindeutig nicht die von Nathan, dem Ladenbesitzer. Ganz unbemerkt runzelte er die Stirn.

,,Verzeihung, aber ich musste eben noch schnell ein paar Sachen sortieren. Wie kann ich Ihnen denn behilflich sein?", ertönte es plötzlich aus dem hinteren Türrahmen. Sofort riss er seinen Blick von dem Rembrandt hinter der gläsernen Wandvitrine los, der ihn jedes Mal aufs Neue faszinierte, und begegnete einem aufgeweckten Augenpaar.
Ihm drohten Fliegen in den Mund zu fliegen, als er dort das verflixte Mädchen von neulich stehen sah.

,,Lederjäckchen?", verließ es verblüfft seinen Mund.
,,Grau Mantel?", entgegnete sie irritiert.
,,Grau Mantel?", wiederholte er fragend und legte den Kopf mit gerunzelter Stirn schief. Eine eigenartige Stille entstand zwischen ihnen, in der sie sich beide gegenseitig unverwandt anstarrten.
,,Ist was?", fragte sie schließlich frech und trat hinter den Thresen.
,,Du bist doch das Mädchen von letztens oder?"
,,Ja? Und?"
,,Und die fuchsige Journalistin!", entglitt es seinen Lippen etwas lauter als beabsichtigt.
Sie grinste ihm frech entgegen. ,,Ja? Und?"
,,Ja? Und?", äffte er ihr nach und trat an die Theke, hinter der sie verschwunden war, um ein paar Schnürsenkel zu verstauen, die sie mit nach vorne genommen hatte.

©Eine Milliarden GründeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt