39

406 23 20
                                    

Am nächsten Morgen wachte ich zwischen zwei Matratzen auf und blickte hin und her. Rechts neben mir war Jin, links daneben Felix und zu meinen Füßen meine Matratze mit einem ziemlich eklig befleckten Bettlaken. Da war eine Menge von mir drauf, eine Menge von Jin und eine Menge Gleitgel, dass ich noch am Abend für meine Show nutzte. Zusammen mit etwas Bodyglitzer und schon war die Sauerei perfekt. "Ey wach auf. Kommt schon. Du auch, wieso bist du eigentlich hier Felix? Angst gehabt, allein drüben?", verschlafen kicherte ich nur und rüttelte an beiden herum. Es war Samstag und wir mussten clever einkaufen gehen - ganz ohne Kühlschrank gar nicht so einfach, aber vor allem mit Jin war es fast unmöglich. Er maulte unentwegt weiter über unsere bescheuerte Lebenseinstellung. Er maulte daheim, auf dem Weg zum Laden, über dem Parkplatz und auch im Laden weiter. Doch irgendwann gab er auf und schob nur noch den Einkaufswagen vor sich her. Kaum war das eine Baby leise kam das nächste hervor. "Felix guck doch mal auf die Preise. Das ist zu teuer. Das auch." Seufzend nahm er das No-Name Produkt und tauschte sie gegen die im Wagen liegenden teuren. "Arm sein ist scheiße." Außerhalb des Internats genoss ich es schon fast die beide so leiden zu sehen und hieß sie herzlich willkommen in der Durchschnittsbürger Welt. "Gewöhnt euch besser dran.", lachte eine Stimme hinter uns und wie drei Erdmännchen blickten wir zurück. "Boah wow ...", entfloh es Felix und er bereute es augenblicklich, als die ihn so anziehenden Augen erblickten. "Evelyn, hi." Jin begrüßte sie und blieb an Ort und Stelle stehen. "Dann stimmt es also, dass du wieder da bist! Ich freu mich so." Überschwänglich kam sie näher und warf sich ihm an den Hals. Ich war derweilen wie Luft für sie. Ihre einst so nette Art mir gegenüber hatte sich scheinbar schlagartig geändert und bereits bei den Nachkontrollen im Krankenhaus konnte ich es spüren. Damals dachte ich, dass sie Schuldgefühle mir gegenüber hätte. Jetzt erkannte ich, dass ich ihr aber plötzlich ein Dorn im Auge war. "Ja und ich bleibe, aber vor allem wohnen wir jetzt offiziell zusammen." Er drückte sie etwas zurück und baute brav Abstand auf. "Ihr wohnt zusammen? Ihr alle drei? Was ist das für nen Ding? Naja, Hauptsache ist dass jeder seine Privatsphäre und Zimmer hat oder...", sie blickte hin und her und warf das lange Haar von der Schulter zurück nach hinten. "Felix hat seins und wir haben unseres.", ich betonte es extra deutlich und bekam ihre Aufmerksamkeit. "Was macht die Nase?" Ablenkend sah sie mich an, dann wieder zu Jin. "Alles gut, aber wir müssen weiter."
"Bis dann.", verabschiedete sich Jin und ich war mit der von ihm gewählten Distanz sehr zu frieden - sie allerdings weniger und so kam sie noch ein paar Schritte mit. "Ah wollen wir nicht etwas trinken gehen? Heute Abend vielleicht?" Ich wartete kurz und wieder zu frieden sah ich Jin den Kopf schütteln. "Nein, geht nicht. Ich schätze mal das wir erst mal Geld sparen?", fragend sah er zu mir und Felix herüber und sah uns fleißig nicken. So sehr, dass er schmunzelnd lächelte und Evelyn gegenüber nur mit den Schultern zuckte. "Kannst ja mit Max was trinken gehen."
Den Spruch konnte ich mir nicht verkneifen, weshalb ich danach einen Schritt schneller fort ging und glücklicher nicht sein konnte. "Sparen müssen wir wirklich. Weder Möbel noch Ringe bezahlen sich von allein." Überrascht drehten sich Felix und ich um und sahen Jin dabei zu wie er das billigste und kratzigste Klopapier in den Wagen packte. "Ringe?", wiederholte ich und sah ihn plötzlich grinsen. Zwischen Toilettenpapier auf der einen Seite und Mehlpäckchen auf der anderen Seite stand Jin einfach so da, hob die rechte Hand und fuhr mit den Fingern der anderen so über seinen Ringfinger, als würde er sich selbst einen Ring anstecken. "Es sei denn du willst nicht." Mit weit aufgerissen Augen lief ich so aufgeregt auf ihn zu das ich gegen das Ende vom Einkaufswagen stieß und ihm den Griff somit in den Magen rammte. "Und ob! Also ja!", brüllte ich quer durch den Gang und beugte mich vor nur damit Jin mir entgegen käme und mir meinen erwarteten Kuss aufdrückte. "Wie romantisch.... Glückwunsch?", Felix war irritiert und gleichzeitig freute er sich mit. "Konntest du eigentlich keinen besseren Ort finden?", fragte er dann doch und brachte Jin so zum lachen, dass er den Kuss unterbrach. "Doch, aber das würde doch gar nicht zu Lucas passen." Ab dem Moment war ich so glücklich, dass ich mein Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht bekam und auch nicht mehr darauf achtete was die beiden kauften. Am Ende war es teurer, als gewollt und dennoch beschwerte ich mich nicht. Zurück daheim sah ich mir unsere Wohnung an. Wir hatten kaum etwas und lebten quasi aus dem Koffer bis wir uns erste Möbel kaufen konnten. Wir aßen Instantnudeln oder Doseneintopf vom Gaskocher, gingen waschen im Salon und trockneten alles lieber auf der Leine, als Geld für den Trockner auszugeben. Dylan war schon lange kein Thema mehr und Max, da war ich mir sicher, saß irgendwo schmollend wie ein Gnom in seiner Ecke - doch schien sich nicht mehr zu melden. Evelyn war abgespeist und Jin hat mir nicht nur seine Treue, sondern auch Liebe bewiesen. Auch meine Geschwister gingen einen völlig neuen Weg. Sie hatten sich in ihrem neuen Leben eingewöhnt und blühten neu auf. Cindy gab ihr Bestes auf die Betreuer zu hören, Clara glänzte neuerdings mit besseren Noten und schickte mir jede Klassenarbeit die plötzlich eine zwei zeigten per WhatsApp. Doch die größte Veränderung machten meine zwei Brüder durch. Sie waren fleißig, diszipliniert und fanden im Fitnessstudio nicht nur das Boxen, sondern auch viele neue Vorbilder denen sie fleißig nacheiferten. Manchmal schreckte ich auf, als ich sah wie hart Jins Vater sie ran nahm und schluckte bei dem Gedanken, dass er auch so streng zu Jin gewesen war - schüttelte negative Gedanken aber direkt ab, denn ein Blick auf sie und auf Jin zeigte das er alles richtig machte. "Lucas?" Ich blinzelte zweimal und sah Jin und Felix mir gegenüber. "Wieso heulst du?" Unbemerkt liefen mein Tränen das Gesicht herunter. "Ich dachte nur nach. Mir ist klar geworden, dass ich zum ersten Mal im Leben sagen kann: 'Es ist alles gut.' Ich hab alles was ich wollte, jedem geht's gut, wir fangen bald an zu arbeiten und meinen Geschwistern geht's auch gut." Ich konnte nicht glücklicher sein und die Instantnudeln schmeckten plötzlich wie ein tausend Euro Menü.

-Ende-

Webcam BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt