Joe arbeitet meistens bis in die späten Abendstunden. Was bedeutet, ich bin alleine Zuhause und das wiederum ist das beste, was mir hätte passieren können. Nachdem mich der Regen von vorhin völlig eingeweicht hatte, war ich wieder in der Lage gewesen aufzustehen. Gott sei Dank, noch bevor irgendjemand was von meinem plötzlichen Abgang mitbekommen hatte. Mein erster Schultag und ich ließ schon die letzten zwei Stunden sausen. Ich kann von Glück reden, dass es nur Sport war. Trotzdem würde man mich damit morgen in der Schule konfrontieren. Verdammt. Ich muss mein Leben auf die Reihe bekommen. Ich schlurfe in die Küche und hole mir eine Tasse Kaffe, bevor ich nach oben gehen und mich dieser klitschnassen Uniform entledigen würde. Sie klebt an mir wie ein nasser Sack.Ich ziehe mir einen kuscheligen, grauen Kapuzenpullover über, der mir fast bis zur Kniekehle geht und setze mich an den kleinen, weißen Schreibtisch. Er ist schön. Ich meine es ist Mahagoni Holz.
Ich knipse den Flachbildfernseher an, der gegenüber von meinem Bett hängt und wähle ein x-beliebiges Programm. Bei mir muss im Hintergrund immer was laufen, wieso das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich mich dann nicht mehr so einsam fühle, aber trotzdem alleine sein kann. Verkorkst.
Gerade will ich meine Bücher, die ich heute bekommen hatte und den Stundenplan vor mir ausbreiten, da ertönt die Stimme eines Reporters. „War es wirklich Selbstmord? Laut Augenzeugen..."-
Ich erstarre. Mein Herz fängt augenblicklich wieder an gegen meine Brust zu hämmern wie wild.
Nervös skippe ich von Programm zu Programm, doch die Nachrichten sind voll damit. Schlussendlich mache ich diese scheiß Kiste aus und vergrabe mein Gesicht in meinen Büchern.
Das geht jetzt schon seit Monaten so. Die unterschiedlichsten Dinge schnüren mir den Atem ab. Ein Geruch, eine Farbe, ein Gebäude, eine Blume, ein einziges verdammtes Wort reicht aus, um mich wieder in diese schreckliche Nacht zurück zu schleudern. Ich ging regelmäßig zu einer Therapeutin, in Eastbourne, doch auch die hatte es nicht geschafft, mich von diesen immer wieder kehrenden Panikattacken zu befreien. Nichts kann das.
Ich hatte halb mit Mom gestritten, als ich ihr ausdrücklich klar gemacht hatte, dass ich nicht will, dass Joe darüber in Kenntnis gesetzt wird. Ich meine, er ist Psychologe und ich habe definitiv genug von diesem ganzen Mist. Weder ein Psychologe noch ein Therapeut noch irgendjemand anderes werden mir jemals Caleb wieder zurück bringen können. Es ist, als könne ich ihn nicht richtig los lassen. Er spukt noch immer in meinem Kopf herum.
Caleb und ich kannten uns, seitdem wir unsere Windeln vollgemacht hatten. Wir waren die besten Freunde. Wir haben uns geliebt. Nur anders eben.
Ich konnte neben ihm einschlafen, einfach so.
Ich konnte vor ihm schreien, wie eine Hyäne.
Ich konnte vor ihm weinen, wie ein kleines Kind.
Ich konnte vor ihm lachen, wie eine gackernde Henne.
Ein kaum hörbares Krächzen schleicht sich aus meiner Kehle. „Ich vermisse dich so sehr."
Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe für einen kurzen Moment die Augen.
Wird es jemals aufhören wehzutun?, frage ich in die Stille.
Langsam fängt es draußen an zu dämmern. Dicke Wolken ziehen sich am Himmel zusammen und verschlucken das restliche Licht vom Tag. Es ist zwanzig Uhr. Joe ist noch immer nicht nach Hause gekommen. Ich hatte es geschafft die Hausaufgaben zu machen und danach zu lesen. Das Buch, dass ich gerade lese, handelt von einem schüchternen Mädchen, dass sich unsterblich in den unerreichbaren Badass-Lacrosspieler verliebt. Bei dem Klischee kommt mir die Lasagne von heute Mittag fast hoch, aber irgendwie lenkt es mich ab. Wenigstens hat es das, für knapp eine Stunde. Jetzt sitze ich wieder total rastlos in meinem Bett und meine Gedanken kreisen um diese bescheuerte Sligachan Bridge. Ich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Es gilt, alles zu meiden, was mich bezüglich Calebs Tod triggert. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich bereits mein Macbook geöffnet und Sligachan Bridge in die Suchleiste bei Google eingegeben habe. Du bist selbst schuld wenn du irgendwann einwanderst. Und zwar in die Geschlossene.
Wow. Es ist eine alte Steinbrücke. Sieht aus, als würde sie am anderen Ende in eine verwunschene Welt führen. Onkel Google sagt, dass sie über den gleichnamigen Sligachan River führt. Sie ist wohl der Ausgangspunkt in die Black Cullins und sie ist direkt hier, auf dieser Insel. Ich öffne Maps und gebe den Standort ein. Genau zehn Minuten Autofahrt.
Warum reizt es mich plötzlich so, dort hinzugehen? Ich will dort nicht hin. Ich verspüre sogar ein total ungutes Gefühl in meinem Bauch und trotzdem ist da diese unbekannte Stimme, dieses unbekannte Kribbeln in mir, das mich dort hinzieht.
Also ziehe ich mir meine Schuhe an, schnappe mir die Autoschlüssel und gehe.
DU LIEST GERADE
One Heartbeat
RomanceVor 6 Monaten verlor sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, aber er ist nicht komplett verschwunden. Er ist noch da. Näher als sie zu denken vermag. Als die 17-jährige Nathalie den attraktiven Studenten Neil k...