"Wer war er?"

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Nathalie:

Heute ist Freitag und der Lehrer scheint es ziemlich eilig gehabt zu haben, denn er hatte den Unterricht verfrüht beendet und ist postwendend aus dem Klassenzimmer gestürmt. Deshalb stehe ich jetzt am Schultor und warte auf Neil. Ich trete ungeduldig von einen auf den anderen Fuß und umklammere meinen Ordner so fest, dass ich mir unsicher bin, ob er nicht gleich auseinander fällt.

Ich. bin. nervös.

„Hey Nathalie." Vanessa steht, den Kopf schief gelegt, mit einem leicht bemitleidenden Blick vor mir. Den hat sie drauf, seitdem ich wie vom Blitz getroffen aus der Kantine gerannt bin, weil ich eine Panikattacke bekommen hatte. Davon weiß sie natürlich nichts.

„Hi Vanessa", entgegne ich und lächle sie an.

Sie hüstelt ein wenig und ich sehe sie mit fragenden Augen an.

„Ich wollte dir nur sagen, das ich immer ein offenes Ohr habe falls du mal reden willst und du kannst auch einfach immer an unseren Tisch kommen in der Pause."

Sie legt eine kurze Pause ein.

„Und keine Sorge, du kommst nicht aufs Titelblatt des Schul"- sie stockt in ihrem Redefluss und ihre Augen werden groß. Sie starrt an meiner Schulter vorbei, weshalb ich mich automatisch umdrehe.

Dort steht Neil, die Arme verschränkt, angelehnt an einen nagelneuen Mercedes. Als er meinen Blick auffängt, verändert sich seine Körperhaltung schlagartig. Lässig lässt er von seinem Wagen ab und winkt mir mit einem schiefen Lächeln zu.

„Oh. mein. Gott.", kommt es von Vanessa.

Ich sehe sie an und rolle mit den Augen. „Du hast da ein wenig Sabber", sage ich belustigt.

Sie ignoriert mich gekonnt, ihre volle Aufmerksamkeit immer noch auf Neil gerichtet.

„Neil Lancaster", sagt sie seufzend.

Ich kann nicht glauben, wie offensichtlich sie ihn anstarrt. Fehlt nur noch, das sich ihre Pupillen zu kleinen Herzchen formen. Irgendwie finde ich das gerade wirklich amüsant, was dazu führt dass ich heftig grinsen muss, aber woher kennt sie ihn?

„Ich muss los, wir sehen uns Montag", sage ich und wirble herum.

Beim Gehen höre ich noch sowas wie: „Ich will Details. Wir Mädchen teilen immerhin alles miteinander!" Ich bekomme das Grinsen nicht aus dem Gesicht, weil ich Vanessa wirklich erfrischend finde. Irgendwie denke ich sogar, dass man echt Spaß mit ihr haben kann.

„Da bist du ja." Neil kommt auf mich zu, noch bevor ich an seinem Auto angelangt bin und nimmt mir den Ordner aus der Hand. „Der ist echt schwer, was ist da drinnen? Die letzten zehn Schuljahre?"

„Ich glaube unser Klassenlehrer macht gerne Wiederholungen. In dem Ordner befinden sich ungefähr hundert Arbeitsblätter zur Geschichte der griechischen Antike in vierzigfacher Ausführung, aber der Inhalt ist eigentlich der selbe", sage ich und zucke mit den Schultern.

Er lächelt mich an und hält mir wie ein Gentleman die Türe auf. „Lass mich raten, Geschichte ist dein absolutes Hassfach."

Woher weiß er das jetzt schon wieder? Und woher wusste er eigentlich wann ich Schluss hatte?

„Ich folge seiner Geste und steige - plumpse -  auf den Sitz, da er überraschend tief liegt.

Das gesamte innere des Wagens riecht nach Neils hölzernem Duft, unter den sich ein Hauch Moschus mischt.

„Wer sagt, das ich Geschichte hasse?" Ich hasse es.

„Du hättest mal deine Stimme eben hören sollen. Das Wort Geschichte hast du fast ausgespuckt. War also nicht schwer zu erraten." Er verzieht seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, dann startet er den Motor. „Ich will dir was zeigen, hast du Lust?"

Er sieht mich mit einem abwartenden Blick an und ich nicke einfach wie hypnotisiert.

Okay, dieser Typ ist wunderschön. Aber es ist nicht das Einzige, was mich so zu ihm zieht.

Da ist noch etwas Anderes. Etwas Stärkeres. Etwas Bekanntes.

Während der Autofahrt linse ich immer wieder zu ihm herüber. Ich kann sehen, wie er das selbe tut. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf jetzt ganz zu ihm. Seine Kiefermuskeln zucken leicht.

„Sieh mich bitte nicht so an", meint er mit rauer Stimme.

„Wieso nicht?"

„Weil ich mich dann nicht mehr so gut aufs Autofahren konzentrieren kann." Er neigt seinen Kopf leicht in meine Richtung und sein einvernehmender, verruchter Blick lässt mein Herz Saltos schlagen.

„Ganz schön warm hier drinnen. Kann ich das Fenster öffnen?"

„Klar."

Neben mir sind ungefähr zehn Knöpfe und ich habe keine Ahnung, welchen ich benutzen muss.

„Warte. Es ist der hier", er beugt sich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, über mich und ich vergesse wie man atmet. Er hält einen Moment in dieser Position inne und ich kann spüren, wie er scharf die Luft einzieht. Auf einmal lächelt er in sich hinein. Es ist mehr ein verlegnes Lächeln.

„Bist du schon mal Riesenrad gefahren", frägt er in die Stille.

Ja, mit Caleb. Ich habe es geliebt.

„Ja, aber ich werde es nie wieder tun."

„Wieso nicht?"

Weil ich nichts mehr machen kann, was mich an ihn erinnert ohne dabei vor Schmerz zu Grunde zu gehen.

„Weil ich Angst davor habe."

„Wer war er?"

Ich erstarre.

Er sieht mich unter gesenkten Wimpern hervor an und setzt den Blinker. Kurzer Zeit später kommen wir am Straßenrand zum Stehen.

„Was auch immer dazu geführt hat, das du die Dinge, die du eigentlich liebst nicht mehr machen willst, es tut mir leid."

Seine Worte hämmern gegen meine Schädeldecke und ich habe das Gefühl meine Stimme im selben Moment verloren zu haben.

Es ist als könne er meine Gedanken lesen, als könne er in mich sehen und über meine himmelshohe Mauer steigen, die ich vor Monaten in meinem Innersten erbaut hatte.

„Warum weißt du so viel über mich?", frage ich ohne den Blick von meinen zusammengefalteten Händen zu nehmen.

„Ich weiß es nicht", sagt er und ich glaube ihm.

One HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt