„Ich denke, ich frage lieber nicht, wie du herausgefunden hast wo ich lebe"

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Nathalie:

Ich kann von Glück reden, dass Joes Schlaf so tief wie der eines Bären zu sein scheint. Ich kann Neil also unbemerkt zu mir ins Zimmer verfrachten. Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt muss ich erstmal ausatmen. Scheint fast so, als hätte ich die ganze Zeit die Luft angehalten.

Mein Blick fällt auf Neil, der total unbeholfen mitten im Raum steht, die Hände immer noch tief in den Hosentaschen.

Jetzt, da ich ihn zum ersten Mal in richtigem Licht und in seiner kompletten Gestalt betrachten kann, höre ich fast wieder auf zu atmen.

Wie kann ein Mensch so schön aussehen?

Er trägt eine graue, enger geschnittene Jeans, die an den Knien leichte Risse hat. Seine Sneaker sind schwarz und sehen nicht gerade günstig aus. Sie passen zu seinem tiefschwarzen Pullover, dessen Stoff über seinen Oberarmen definitiv spannt. Seine Gesichtszüge sind markant und trotzdem sanft, einfach perfekt. Von der Farbe seiner Augen ganz abgesehen. Das grün in ihnen dominiert, aber ich habe das Gefühl, dass je nach Lichteinfall ein goldener Schimmer in ihnen liegt.

Ich muss schlucken. Er ist ein wahres Kunstwerk.

Neil scheint zu bemerken, dass ich ihn gerade von oben bis unten gemustert hatte, - wie unangenehm - weshalb ich jetzt verlegen zur Seite sehe.

Er schenkt mir ein leises Lächeln. „Schon komisch einen Fremden in seinem Zimmer stehen zu haben, oder? Ich will mich echt noch einmal bei dir entschuldigen. Es ist nicht ansatzweise so wie du denkst, um ehrlich zu sein ist die ganze Sache sehr verworren."

„Was denke ich denn?" Meine Stimme ist belegt.

„Naja, zum Beispiel dass ich ein Psychopath bin?"

Noch bevor ich etwas dazu sagen kann, redet er weiter.

„Du musst bestimmt gleich zur Schule, oder? Wenn du mir die Chance gibst, dann würde ich dich danach gerne abholen. Du musst mir nur sagen auf welche Schule du gehst und wann du aus hast. Ich werde pünktlich da sein, versprochen." Seine Augen glänzen im Schein meines grellen Zimmerlichts. „Ich kenne dich. Gestern Nacht, an der Sligachan Bridge, es war nicht das erste Mal das ich dich gesehen habe. Nur das erste Mal, das ich dich wirklich vor mir stehen hatte", flüstert er und legt seine Hand kurz auf seine Brust.

Ich sehe ihn verdutzt an. Was meint er mit Das erste Mal, das ich dich wirklich vor mir stehen hatte und was meint er mit dem Rest. Ich verstehe die Welt nicht mehr, aber meine unsichtbaren Fühler, die ich immer versuche auszufahren, um herauszufinden ob ein Mensch Gutes oder Böses im Sinne hat, sagen mir ganz einfach Du kannst ihm vertrauen. Außerdem möchte ich unbedingt wissen, was das alles zu bedeuten hat. Hat er mich vielleicht auf irgend einer sozialen Plattform entdeckt und wollte mich unbedingt kennenlernen, aber wieso hat er mich dann nicht einfach angeschrieben? Kennt er mich von der Schule? Aber hatte er nicht gerade eben erwähnt, dass er mich von der Schule abholen würde. Außerdem sieht er zwei, vielleicht drei Jahre älter aus als ich und geht wahrscheinlich gar nicht mehr auf die Highschool. Und wie hat er mich eigentlich gefunden?

„Ich denke, ich frage lieber nicht, wie du herausgefunden hast wo ich lebe", sage ich und streiche mir meine Haare hinters Ohr.

Er grinst und meint nur: „Lieber nicht."

Dann verändert sich sein Gesichtsausdruck. „Du siehst wunderschön aus, wenn du dir die Haare hinter deine Ohren legst."

Eine unheimliche Wärme breitet sich in meinem gesamten Körper aus und gleichzeitig laufe ich rot an wie eine blöde Tomate. „Danke", murmle ich. Innerliche platze ich fast. Ich habe in meinem Leben schon öfter mal Komplimente bekommen, aber noch nie eines, dass mich aus der Fassung gebracht und mein Herz zum stolpern gebracht hatte. Es liegt wohl daran, dass Er mir gerade dieses Kompliment gemacht hat. Ich weiß nur nicht wieso.

Ich brauche ein, zwei Sekunden bis ich mich wieder gefasst habe, dann stoße ich mich mit dem Rücken von meinem Schreibtisch. „Ich muss mich jetzt fertig machen, außerdem wird Joe bald aufwachen. Du kannst mich gerne von der Schule abholen, ich gehe auf die Buckley."

Dieses Lächeln dass seine Lippen umspielt, es ist echt.

Er will gerade gehen, doch dann bleibt er im Türrahmen stehen und dreht sich noch einmal in meine Richtung. „Verrätst du mir jetzt deinen Namen?", fragt er.

Oh, das hatte ich ganz vergessen. „Ich heiße Nathalie."

Er hält meinen Blick fest. „Bis später, Nathalie", sagt er und dann zieht er leise die Türe hinter sich zu.

Bei dem Klang meines Namens aus seinem Mund durchfährt mich ein angenehmer Schauer und gleichzeitig ein schmerzliches Stechen. Wie er gerade meinen Namen betonte... es war die selbe Art und Weise, wie Caleb es immer tat.

One HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt