Nathalie:
Die Tage sind so schrecklich lang, sie vergehen einfach nicht. Ich stehe morgens auf und fiebere auf die Nacht hin, derweil ist die genau so schlimm wie die Tage und zur Schule ging ich gerade auch nicht. Ich konnte Joe davon überzeugen, dass ich mir einen üblen Magen-Darm-Virus eingefangen hatte, bei meinem Anblick könnte man das auch meinen. Direkt neben meinem Bett steht ein länglicher Spiegel. Ich betrachte mich darin, die Haut leblos, die Ringe unter meinen Augen sehen aus wie tätowiert und meine Haare liegen in einem zerzausten Knödel auf meinem Kopf.
Ich träume jede Nacht von Caleb, er ertrinkt immer und immer wieder und schlussendlich, kurz bevor der Traum vorbei ist, verschwimmt sein Gesicht und Neil taucht vor meinem inneren Auge auf. Sind es Gewissensbisse? Habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich jemanden kennengelernt habe, das ich glücklich bin, dass ich dabei bin mich zu verlieben? Seit seinem Tod verbiete ich mir nahezu jede Situation, in der womöglich Spaß haben könnte, obwohl ich genau weiß, dass er das nie für mich gewollt hätte. Er hätte gewollt das ich glücklich bin und mein Leben weiterlebe, aber wie kommt man darüber hinweg, einen Menschen zu verlieren, mit dem man schon im Sandkasten gespielt hat? Die klaffende Wunde die er in meinem Herzen hinterlassen hat ist einfach zu groß.
Aber ein tiefer Zugang in mir weiß irgendetwas, irgendetwas das mein bewusstes Ich nicht wahrhaben will, nicht wahrhaben kann.
Ich greife nach meinem Smartphone und der Sperrbildschirm ist voll mit Nachrichten und Anrufen von Neil. Du bist nicht fair zu ihm, flüstert meine innere Stimme mir zu. Nein das bin ich nicht, das bin ich ganz und gar nicht, auf einmal kann ich keine Sekunde länger damit warten ihn anzurufen.
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Neil klang total aufgewühlt und durch den Wind. Erst dachte ich, es ist weil ich mich nicht mehr bei ihm gemeldet hatte, aber da war mehr dass konnte ich spüren.
Joe ist nicht Zuhause und es ist erst elf Uhr morgens, er würde noch mindestens sechs oder sieben Stunden außer Haus sein, deshalb bat ich Neil bei mir vorbeizukommen. Ich betrachte mich kritisch im Spiegel. Ich trage ausnahmsweise mal nicht den Pennerlook, sondern stattdessen eine hellblaue skinny Jeans und darüber ein rosafarbenes, kurzes Langarmshirt. Meine Haare habe ich zur Hälfte mit einer Spange nach hinten gesteckt. Wäre da nicht mein total eingefallenes Gesicht und die dunklen Schatten unter meinen Augen, dunkler als die Nacht es jemals sein konnte, dann würde ich ganz gut aussehen.
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„Du bist perfekt", ist das erste was Neil zu mir sagt, als ich ihm die Tür öffne. Ich bekomme ein verlegenes „Danke" heraus und die aufkommende Hitze, die sich bei seinen Blicken, die auf mir kleben in meinem Körper ausbreitet, ist wie immer überwältigend. Wie kann ich für so jemanden perfekt sein, wenn Er dieses Wort verkörpert. „Und du bist wie immer perfekter als perfekt", meine ich und verschwinde aus dem Türrahmen, damit er reinkommen kann.
Während er sich bewegt, lassen seine Blicke nicht von mir ab und in ihnen steckt ein Verlangen, aber auch eine Angst, die mich beinahe erzittern lässt.
Noch bevor wir die Türschwelle meines Zimmers übertreten können, greift er mich an meinen Hüften und zieht mich sanft zu sich nach oben, so das ich auf Zehenspitzen stehe. Ich starre auf seine muskulöse Brust, die durch das weiße Langarmshirt hindurch schimmert. Er schiebt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und dreht meinen Kopf zu sich nach oben. Ich stehe kurz vor einem Herzinfarkt, so wild klopft mein Herz. „Das will ich schon die ganzen letzten Tage tun", flüstert er an mein Ohr und drückt seine Lippen auf meine. Ein Schauer voller Glückshormone durchfährt mich, als seine Zungenspitze die meine berührt. Anders als beim Letzten mal ist dieser Kuss nicht mehr ganz so vorsichtig, er ist voller Feuer und voller....Leidenschaft und er geht so lange, bis sich unsere Lippen schwer atmend voneinander lösen. Keine Ahnung wie lange wir so dort gestanden haben, es ist als wären wir in der Zeit stehen geblieben. Warte, wieso haben wir jetzt damit aufgehört?
Neil gibt einen leisen Seufzer von sich. „Das war unglaublich, ich hoffe so sehr dass es nicht der letzte Kuss gewesen ist und falls ja, dann werde ich ihn niemals vergessen."
Ich bin etwas verdutzt. „Wieso sollte es der letzte Kuss gewesen sein?"
Er drängt mich in mein Zimmer und schließt die Tür hinter uns.
„Setz dich bitte hin Nathalie", fordert er und fährt sich unter gesenkten Wimpern durch die dunkelbraunen Haare.
Das Feuer, dass gerade eben noch von unserem Kuss wie wild gelodert hatte, erlosch jetzt ziemlich schnell und wurde durch das Gefühl von Ungeduld und Unwissenheit ersetzt, was dazu führt, dass ich jetzt langsam wütend werde.
„Was soll das Ganze?"
Er reagiert gar nicht erst auf meine Frage sondern redet einfach weiter. „Das was ich dich jetzt frage ist sehr wichtig Nathalie."
„Neil kannst du bitte Klartext reden", sage ich mit zittriger Stimme.
„Dein Freund..die Todesursache..was"- er unterbricht sein total wirres Aneinanderhängen von Worten und vergräbt seine Hände verzweifelt in seinen Haaren.
Ich will ihn wirklich nicht bedrängen, aber ich will doch nur wissen was los ist, also gehe ich auf ihn zu und lasse meine Hände beruhigend über seine Oberarme gleiten und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gleich rotiere.
Er atmet einmal tief durch, bis die Worte diesmal Sinn ergeben.
„Kennst du die endgültige Todesursache von deinem Freund?", frägt er flach atmend und seine Stimme klingt so, als würde sie wild vibrieren.
In meinem Kopf schreien die unterschiedlichsten Stimmen durcheinander, deshalb schüttle ich ihn, als könne ich sie damit los werden, bevor ich antworten kann.
„Er erlitt einen Hirntod, das war die Diagnose", sage ich und lasse meine Hände von ihm gleiten.
„Ich glaube ich trage das Herz deines verstorbenen Freundes in mir."
Seine Worte ergeben keinen Sinn, sie hallen durch meinen Kopf wie ein Echo und ich versuche sie zu etwas Ganzem zusammenzufügen aber ich will nicht. Ich will nicht das sie Sinn ergeben, ich will nicht das es stimmt, ich will das nicht hören.
Ich stolpere nach hinten und finde Halt an meinem Schreibtischstuhl.
„Deshalb hast du von mir geträumt", flüstere ich mit bebender Stimme.
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One Heartbeat
RomantizmVor 6 Monaten verlor sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, aber er ist nicht komplett verschwunden. Er ist noch da. Näher als sie zu denken vermag. Als die 17-jährige Nathalie den attraktiven Studenten Neil k...