"In mir herrscht Krieg und er dauert an.."

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Nathalie:

Völlig resigniert trotte ich einen kleinen Weg, entlang eines grünlich Schimmerndes Sees. Schon als kleines Kind hatte er mich fasziniert, er ist umgeben von lauter alten Bäumen, deren Stämme so dick sind, dass wahrscheinlich nicht mal ein Erdbeben sie jemals umstürzen lassen könnte. Der See selbst ist allerdings das eigentliche Phänomen. Sieht man nur lange genug auf seine glänzende Oberfläche, kann man Gesichter darin erkennen. Natürlich gibt es dafür logische Erklärungen, aber als Kind habe ich mir meine eigene Geschichte daraus gebastelt. 

Plötzlich fühle ich mich unheimlich schwach, weshalb ich mich auf die einzige Bank setze, die es hier gibt. Erst, als ich mich schon auf ihr niedergelassen habe, sehe ich das bereits jemand dort sitzt. Eine ältere Frau mit einem grauen Dutt und knallroten Lippen. Sie ist bestimmt schon siebzig oder achtzig Jahre alt, aber hat auf eine tiefergehende Art und Weise etwas richtig jugendliches an sich. 

"Entschuldigen Sie, ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich mich kurz setze", meine ich höflich. Die ältere Dame wendet den Blick von ihren Stricknadeln und lässt ihn zu mir schweifen. "Schon in Ordnung Liebes, ich freue mich zu jeder Zeit über Gesellschaft." Sie legt ihren Kopf in Schieflage und ihre grau-silbernen Augen - ich hatte zuvor noch nie so eine Augenfarbe gesehen - mustern mich so, als würden sie etwas in meinem Gesicht versuchen abzulesen. 

Sie wendet sich wieder ihrer Stricksession zu und ich richte meine Augen gen See. Ich fühle mich leer und nutzlos. Da hatte ich einen Feueralarm ausgelöst, nur um die Akte von Caleb unbemerkt ausfindig machen zu können, nur um dann feststellen zu müssen, dass diese Verbrecher mir zuvor gekommen sind. Sie würden alles unter den Tisch kehren, derweil sollten sie längst hinter Gittern sitzen, diese Schweine. 

"Trifft ein Mensch den wir lieben Entscheidungen, die wir nicht verstehen oder für diese wir keine Gründe kennen,  dann gleicht dies nahezu einer Folter. Wir wissen, dass nur er weiß, weshalb er es wirklich getan hat und dass uns kein anderer eine Antwort geben kann. Allerdings können wir nicht aufhören nach Erklärungen zu suchen. Wir benötigen etwas, irgendetwas, dass uns die Ungewissheit nimmt. Selbst dann noch, wenn wir unterbewusst längst zu der Erkenntnis gekommen sind, das es keinen Sinn macht."

Ich rücke mit klopfendem Herzen und Entsetzen in den Augen  von ihr ab, bis an den Rand der Bank. Meine Hände zittern und mein Gesicht ist mit großer Wahrscheinlichkeit leichenblass. 

Wer ist diese Frau und wieso erzählt sie mir das und wieso passen diese Wort so sehr auf das, was ich gerade erlebe?

"Wieso erzählen sie mir das?", frage ich mit leiser Stimme, das Zittern deutlich hörbar. 

Sie dreht ihren Körper in meine Richtung und ihre silbernen Armbänder geben ein Klimpern von sich, als sie ihre Stricknadeln und alles andere in ihren Schoß legt. 

In ihren Augen liegt Mitleid. Es ist, als würde sie wissen, was ich fühle. 

"Ich erzähle es dir, weil ich deinen Schmerz spüren kann. Er ist mächtig und er trägt Verlust in sich. Du hast einen wichtigen Menschen verloren, nicht wahr Liebes?"

Ich versuche die aufkommenden Tränen weg zu blinzeln. Wie kann das sein? Die anfängliche Skepsis gegenüber dieser fremden Frau verwandelt sich in ein anderes Gefühl. Das Gefühl von Verstanden werden, auch wenn ich nicht weiß, wie das überhaupt möglich sein kann, vertraue ich mich dieser Fremden an und lasse mich darauf ein, obwohl ich nicht weiß, warum es so scheint, als könne diese Frau meine Gedanken lesen, fange ich einfach an zu reden. 

"Er hat sich das Leben genommen und ich weiß nicht wieso, es frisst mich von innen nach außen auf und...und das Schlimmste ist, dass sein Herz gespendet wurde, an einen Jungen, in den ich mich verliebt habe. Ich kann nicht verstehen, wie das möglich ist. Ich kann nicht verstehen, dass ich von Milliarden Menschen auf dieser Welt, gerade mein Herz an den einen verliere, der der Empfänger des Herzens desjenigen ist, den ich verloren habe. Das ist einfach nicht fair."

Jetzt kullern die Tränen meine Wangen hinab. Sie landen in einer kleinen Pfütze neben meinen Beinen und vermischen sich mit dem Regenwasser. 

Ich spüre ihre Hand an meiner Schulter. Kurz zucke ich zurück, bis ich das Gefühl wahrnehmen kann, was sich aufgrund dieser kleinen, aber so bedeutenden Geste in mir auslöst. Es ist, als würde sie mir Kraft damit geben. Als würde durch ihre Hände eine Energie gehen. Eine, die alles in mir leichter werden lässt. Eine, die den Schmerz lindert, zumindest für den Moment. 

"Du musst seine Seele ruhen lassen. Er befindet sich gerade in einem Stadium zwischen Leben und Tod. Er hat die Schwelle zum Tod bereits überschritten, aber ein Teil von ihm ist immer noch hier. Er versucht Kontakt mit dir aufzunehmen. Womöglich kannst du ihn noch sehen, oder ihn spüren oder manchmal mit ihm reden. All das geschieht, weil er leidet. Er versucht dir zu sagen, dass du ihn gehen lassen musst und zwar für immer."

Für immer. 

"Nein, nein ich kann nicht. Ich kann ihn nicht gehen lassen. Er kann das doch nicht wollen, oder?"

Sie greift nach meinen Händen und drückt fest zu. 

"Kind, er hat diese Entscheidung aus einem bestimmten Grund getroffen. Du wirst es herausfinden und du wirst es verstehen können, aber dafür musst du ihn los lassen. Du musst ihn ziehen lassen. Gib ihm den Frieden, nachdem er verlangt. Er braucht ihn von dir, weil er eine starke Verbindung zu dir hatte. Solange du ihn weiterhin festhältst, schafft er es nicht völlig zu verschwinden."

Alles an ihren Worten lässt meine Welt Kopf stehen. Sie lassen mich innerlich lichterloh brennen und der Schmerz ist so stark, so stark dass ich wegrennen möchte. 

So fühlt es sich jedes Mal an, wenn ich mir vor Augen hole, dass er nie wieder zurückkommen wird. 

Jedes Mal renne ich weg und halte lieber weiter fest. Fest daran, dass er noch da ist, weil er genauso wenig wie ich von ihm, weg von mir sein will. 

Bis jetzt. 

Ich muss durch dieses Gefühl hindurch und es aushalten.

Ich muss ihn ein für alle mal ziehen lassen. 

An den Ort, an dem es ihm besser geht. 

An den Ort, an dem er Frieden erfährt. 

Ich muss ihn gehen lassen.

Für immer. 

Als ich mir all dies eingestehe, bricht eine Welle der Trauer über mich ein, die ich nicht mal an seiner Beerdigung verspürte. In mir herrscht Krieg und er dauert an.

Als alles vorbei ist, weiß ich nicht mehr,  wie viele Minuten ich auf dieser Bank gesessen bin und mich gekrümmt habe, wie viele Tränen ich vergossen habe und wie viele metaphorische Messerstiche in mein Herz gerammt wurden. Das Einzige das ich weiß ist, dass die Frau noch immer neben mir sitzt, ihre Hände fest auf meine gedrückt, mit einem Lächeln im Gesicht. Sie ist die ganze Zeit über bei mir geblieben. 

"Du hast es geschafft Liebes und jetzt geh. Sage dem Jungen den du liebst, dass du ihn liebst. Alles andere wird sich fügen. Vertrau einfach auf meine Worte. Die Wahrheit wird ans Licht kommen und auch du wirst deinen Frieden finden."


One HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt