"Ich war egoistisch, verletzt und krank.."

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Nathalie:

Er ist nervös, ich kann es an der Art und Weise sehen, wie sich seine Brust hebt und senkt, unter seinen Augen liegen dunkle Schatten und trotzdem sieht er noch aus wie ein göttliches Wesen. Ich nehme seine Hand, während Dad uns zu Calebs Mutter fährt. Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Moment, er hält nur so lange an, dass ich die Angst in seinen Augen sehen kann.

Sie lässt mich kurz zittern.

Trotzdem müssen wir beide da durch, wenn wir eine Chance haben möchten.

Wenn wir alles was passiert ist verarbeiten möchten.

Wenn wir ein neues Leben beginnen möchten.

Vor nicht mal ganz sieben Monaten hatte Neil ein neues Leben begonnen, mit einem neuen Herzen.

Vor nicht mal ganz sieben Monaten hatte sich meines für immer verändert. Es ist als hätte ich aufgehört zu leben, aber durch ihn habe ich wieder damit angefangen.

Wir brauchen diese Chance.

Wir brauchen sie dringend.

"Es wird alles gut", flüstere ich ihm ins Ohr. Seitdem diese mysteriöse Frau mit mir geredet hat, hat sich etwas in mir gerührt. Ihre Worte haben mich wachgerüttelt und es war hart.

Es war sehr hart.

Es waren Minuten der Hölle und der Qual. Der Teufel höchstpersönlich ist dabei gewesen und hat mich leiden lassen, mir eingeredet dass ich weiter leiden müsse, aber dass möchte ich nicht mehr.

Ich möchte akzeptieren.

"Egal was passiert, ich will dass du weißt, das ich dich liebe und zwar von ganzem Herzen, wie noch nie einen Menschen in meinem Leben", sagt Neil und wendet seinen Blick der weiten Küste Eastbournes entgegen.

--

"Hallo Joana." Meine Stimme ist nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Sie sieht mich entgeistert an, ihre Augen wirken teilnahmslos und ihr Gesicht ist eingefallen. Die blonden, dünnen Haare hängen ihr schlaff zu den Seiten. Ich hatte sie das letzte Mal an Calebs Beerdigung gesehen, wir lebten zwar im selben Ort und tatsächlich auch in der selben Straße, aber ich habe es jedes Mal gemieden ihr über den Weg zu laufen.

Genau deswegen.

Um den Schmerz in ihrem Gesicht nicht sehen zu müssen.

Um SIE nicht sehen zu müssen. Ihre Augen haben exakt die selbe Farbe wie Calebs und ihre Gesichtszüge erinnern mich nur zu gut an die seinen.

"Nath...Nathalie? Was..was tust du denn hier? Ich meine..komm bitte rein." Sie macht den Weg frei und bittet mich mit einer Handgeste in das schöne kleine Häuschen, in dem ich früher beinahe jeden verdammten Tag verbracht hatte.

Die Nostalgie, die mich jetzt einholt schnürt mir den Atem ab.

Ich greife Neil an der Hand und ziehe in mit über die Schwelle. "Ich..ich weiß nicht."

"Schon okay Neil", beruhige ich ihn. Ich richte meinen Blick wieder auf Calebs Mom.

"Das ist...das ist Neil. Er ist mein Freund."

Sie lässt ein leichtes Schmunzeln über ihre Lippen kommen und ich kann sehen das es echt ist, aber ich kann auch sehen, dass sie das Lachen längst verlernt hat.

Wenn jemand weiß wie das ist, dann ich.

"Schön dich kennenzulernen, Neil." Sie reicht ihm die Hand und ich habe das Gefühl er kippt gleich um.

Kein Wunder.

Wir müssen da durch.

Wir müssen da durch.

Verdammt, wir müssen da durch.

--

Wir sitzen auf der Veranda, an einem aus massivem Holz gebauten Eichentisch. Genau der selbe, an dem ich schon mit zwölf Jahren gesessen habe. Caleb und ich hatten damals unsere Namen dort eingeritzt, als Zeichen für unsere tiefe Freundschaft.

Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.

"Joana, ich weiß dass Caleb sich nicht einfach so das Leben genommen hat", platzt es aus mir heraus.Wer tut das schon. Ich fühle mich wie eine Flasche Wasser mit viel Kohlensäure unter Druck, die gerade geöffnet wird. Ich sprudle gerade so über und ich halte es nicht länger aus.

"Joana." Ich beuge mich weiter zu ihr vor, Neil greift mich sanft am Arm um mir zu zeigen, dass ich mich beruhigen soll, aber ich kann nicht.

"Verdammt. Wieso erzählst du mir nicht einfach die Wahrheit?"

Sie sieht zwischen Neil und mir hin und her und richtet ihre Augen dann auf das blühende Beet hinter mir, in das ich gerade wirklich gerne kotzen würde, weil mir noch nie so schlecht in meinem Leben gewesen ist."

Ich meine, sie fängt vielleicht gleich an zu weinen.

Vielleicht schmeißt sie uns raus.

Vielleicht sagt sie auch einfach nichts, aber das was sie dann sagt ist wie eine Welle, die dich beim surfen erwischt und vom Board schleudert nur um dich gegen die nächste Welle knallen zu lassen.

"Caleb war krank."

Neil versteift sich neben mir und ich tue es ihm gleich.

Caleb war krank?

"Das ist unmöglich. Wir haben beinahe jeden Tag zusammen verbracht, ich hätte mitbekommen wenn-"

"Er hatte eine tickende Zeitbombe in seinem Kopf. Es waren sämtliche Gefäße geschädigt. Er hatte so lange, so starke Medikamente genommen, er wollte nicht dass du es weißt. Er wollte normal weiterleben und du warst einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben. Ich glaube sogar er hat dich mehr geliebt, als er mich jemals lieben hätte können. Als Mutter habe ich auch auf gerader Linie versagt.."

Ich starre sie an, ich kann nichts anderes tun, weil ich das Gefühl habe, dass ich wie gelähmt bin.

Sie blinzelt und atmet die schwüle Sommerluft um uns ein.

"Er wusste, dass er sterben wird. Die Ärzte haben ihm damals noch ein paar Wochen gegeben. Da gab es nichts mehr, verstehst du Nathalie. Es gab nichts mehr. Keine andere Möglichkeit, keinen Ausweg, keine Lösung, Nichts."

Ich starre sie weiterhin an und ich kralle meine Fingernägel so tief in die Haut von Neils Hand, dass sie gleich anfangen würde zu bluten.

"Er wollte nicht auf den Tod warten und du weißt ja...wie eigensinnig er gewesen ist." Ein trauriges Lächeln entweicht ihr.

Ich stehe mit so einer Wucht von meinem Stuhl auf, dass er nach hinten auf den Boden kracht. Meine Augen gleichen immer noch einer Schockstarre, als ich meine: "Wir müssen jetzt gehen."

Sollte ich ihr erzählen, dass Caleb schwer genommen - nein nicht schwer genommen, sondern ganz genau so genommen - ermordet wurde?

Vielleicht wäre er noch einmal aufgewacht, hätte es sich anders überlegt.

Vielleicht hätte er sich verabschiedet.

Vielleicht wäre ein Wunder passiert.

Vielleicht...

"Nathalie, warte bitte." Sie springt von ihrem Stuhl auf.

"Ich habe es einfach nicht geschafft, dir davon zu erzählen, aber er hat dir eine Videobotschaft hinterlassen. Hörst du? Caleb hat sich von dir verabschiedet, du hast es nur noch nicht gesehen. Ich war egoistisch, verletzt und krank.. . Krank, weil du ihm mehr geben konntest, als ich und ich war seine Mutter."

One HeartbeatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt