"Es fühlt sich an, als würde ich gerade ertrinken.."

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Nathalie:

Die gesamte nächste Woche über spielte sich eine Routine bei mir ein. Aufstehen. Zur Schule gehen. Essen. Schlafen.

Neil habe ich seit unserem letzten Treffen - das Joe so wunderbar hat platzen lassen, nicht mehr gesehen. Das heißt allerdings nicht, dass ich nicht an ihn gedacht habe. Das habe ich. Das tue ich. Die ganze Zeit über.

Beinahe jeden Tag und zu jeder Stunde hatte er versucht mich über Instagram zu erreichen und doch bin ich auf keine seiner Nachrichten eingegangen. Nach allem, was ich so von ihm im Internet gesehen habe, bin ich irgendwie sauer. Ich will nicht glauben, dass das der Neil ist, der auch den ganzen Tag auf dem Jahrmarkt an der Schießbude gestanden hätte, nur damit ich meine Meeresschildkröte bekommen würde.

Ich lasse sie gedankenverloren durch meine Finger gleiten.

Montage sollten gestrichen werden. Keiner hat diesen Tag verdient. Wirklich keiner. Er ist einfach grauenvoll.

Der Schultag ist lange gewesen. Die Arbeit in Mathematik ist scheiße gelaufen und irgendwie hatte heute etwas so ganz und gar nicht mit dem Gemüseauflauf gestimmt. Mein Magen tanzt seitdem Tango.

Natürlich finde ich jetzt meinen bescheuerten Autoschlüssel nicht und muss fast die Hälfte meines Rucksackes vor mir auf dem Boden entleeren. Ich glaube, sobald ich Zuhause bin, gehe ich einfach ins Bett und suhle mich in Selbstmitleid.

Als ich den Schlüssel endlich gefunden habe, beginne ich die Einzelteile wieder aufzusammeln, dabei fällt mein Blick auf nagelneue schwarze Sneaker, die aus dem Schatten vor mir auftauchen.

Ich brauche eigentlich nicht nach oben zu sehen, um zu wissen, wer dort steht.

Neil.

Mi einem Räuspern erhebe ich mich vom Boden und versuche bei seinem Anblick nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Selbst in ausgewaschenen Jeans und Kapuzenpullover sieht er aus wie eins der Männermodels von Pinterest. Die Ärmel sind hochgekrempelt, so dass sie den Blick auf seine muskulösen Unterarme freigeben, um die er zwei lederne Armbänder trägt.

Er tritt näher an mich heran.

„Nathalie, du hast mir kein einziges Mal zurück geschrieben. Ist es wegen deinem Dad? Hat er was gesagt über mich..vielleicht etwas Schlechtes?"

Ich sehe zur Seite.

„Mich interessiert nicht, was mein Vater sagt. Er fährt nur seinen blöden Beschützer Trip, weil er ein schlechtes Gewissen hat und denkt er kann einfach mal so die letzten Jahre wieder wett machen."

Ich schnappe nach Luft.

„Außerdem hat es ihn überhaupt nicht gebraucht, das Internet hat mir genug Antworten gegeben."

Ich richte meinen Blick wieder auf ihn. Er sieht mich an, in seinen Augen liegt Reue.

„Ich bin nicht mehr dieser Mensch, das musst du mir glauben", flüstert er.

„Ich weiß", meine ich.

Woher willst du es denn wissen Nathalie, woher?!

„Lass uns ein Stück gehen", sagt er und nimmt mich bei der Hand. Als er unsere Hände ineinander verkreuzt, fühlt sich das an wie ankommen. Ankommen an einem sicheren Ort.

Ich denke, genau deshalb weiß ich, dass Neil weder ein Schläger, noch ein Junkie, noch ein Aufreißer ist. Es muss einen Grund dafür gegeben haben. Einen Grund dafür, dass er diese Maske für eine Zeit lang aufgesetzt hatte.

Der Park, in dem wir uns befinden ist umrandet von grünen dichten Bäumen. In der Mitte steht ein kleiner weißer Brunnen. Wir setzen uns auf eine freie Bank und ich lausche dem Plätschern des Wassers.

„Der Neil, den du da im Internet gesehen hast, das war ich eigentlich noch nie. Es war mehr eine Tarnung. Irgendwann habe ich mich an diesen Lifestyle gewöhnt. Eine Zeitlang habe ich mir sogar vorgemacht, dass er ein Teil von meinem Leben ist, aber das ist er nicht. Ich habe mich lediglich versteckt dahinter."

Ich wusste es.

Ich lege mir die losen Haarsträhnen hinters Ohr und stütze meine Hände am Rande der Bank ab, dann stoße ich langsam die Luft aus meinen Lungen und ignoriere mein wild pochendes Herz.

„Vor ein paar Monaten habe ich einen wichtigen Menschen verloren und durch seinen Tod habe ich auch einen Teil von mir verloren. Ich weiß also was du meinst, wenn du von Tarnung redest. Die meiste Zeit ziehe ich eine Mauer auf und tue so als wäre alles Okay.

Aber es ist nicht Okay. Nichts ist Okay."

Ich kann gerade noch so meinen Kopf abwenden, bevor mir unentwegt die Tränen aus den Augen quellen. Ich kralle meine Finger fest in das Holz der Bank, doch dann nimmt Neil meinen Kopf in seine Hände und schiebt ihn sanft in seine Richtung. Unsere Blicke treffen sich und fesseln den jeweils anderen. In seinen feuchten Augen spiegeln sich Trauer und Verständnis wider.

Und dann scheint für einen kurzen Augenblick die Welt um uns still zu stehen. Alles was ich sehen kann ist Neil und alles was ich hören kann sind unsere Herzen, die im Takt schlagen.

Ich schließe meine Augen, die Tränen gleiten immer noch an meiner Wange hinunter und dann spüre ich seine Lippen auf meinen. In diesem Moment scheint ein stilles Feuerwerk in die Luft zu gehen. Ich lasse mich auf ihn ein und er lässt seine Hände von meinen Wangen zu meiner Hüfte gleiten und zieht mich näher an sich. Eine Hand ruht weiter dort und mit der anderen fährt er durch meine Haare.

Unsere Zungen spielen miteinander, bis alles immer intensiver wird und da plötzlich pures Verlangen auftaucht.

Ein leises Stöhnen kommt aus seiner Kehle. Er hält kurz inne, pausiert den Kuss und als er schwer atmend „Nathalie" sagt, sehe ich plötzlich keinen Neil mehr.

Ich sehe keinen Park mehr.

Ich höre auch nicht mehr das beruhigende Plätschern des Brunnens.

Alles was ich sehen kann ist Calebs schmerzverzerrtes Gesicht.

Wasserblasen kommen aus seinem Mund.

Seine Augen schließen sich.

Seine Arme werden schlaff.

Ich will nach seinen Händen greifen, aber ich greife ins Leere.

Unter mir ist nichts, außer Dunkelheit.

Ich bekomme keine Luft mehr.

Es fühlt sich an als würde ich gerade ertrinken. 

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