Kapitel 11 - Sündenbock

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𝐒𝐔̈𝐍𝐃𝐄𝐍𝐁𝐎𝐂𝐊

Erst als Schwert mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel und Lunas Körper leblos erschlaffte, wachte Ryu aus seinem Albtraum auf. Die Kopfschmerzen verschwanden allmählich und die Stimme, die seine Gedanken gefangen hatte wie ein Netz einen Schwarm Fische, verklang mit ihnen. Seine Sicht lichtete sich, das Rot aus seinen Augen verschwand und zurück kehrte das wunderschöne Blau und der Ausdruck des Schreckens. Mit zitterndem Atem blickte er auf seine Hände. Sie waren mit Blut umspielt. Ein Bild, das sich in seinen Kopf fraß. Das war ihr Blut. Lunas Blut klebte an seinen Händen. Er hatte zugestochen. Er hatte das Schwert gehalten, das ihr Schicksal besiegelt hatte.

Das Zittern verteilte sich über seinen gesamten Körper. Er wollte die Hände vor den Mund nehmen, aus Angst, ein Schrei würde über seine Lippen kommen, aber die Gefühle ließen ihn erstarren. Wie von selbst glitt sein Blick auf den Boden. Ryu wollte sie nicht sehen. Er konnte Lunas Leiche nicht sehen, aber er musste es. Zu unwahr erschien ihm die Situation. Als wäre der Moment ein luzider Albtraum. Trotzdem lag sie da. Erstarrt im Moment. Ohne eine Regung. Ohne ein Schimmern in ihren Augen. Sofort stiegen weitere Tränen in seine Augen. Er hatte das nicht gewollt. Das war nicht seine Absicht gewesen. Warum hatte er das getan? Das konnte nicht die Realität sein.

Unendliche Tränen rannen über seine Wangen, hinterließen ein Gefühl der Schmerzes, dort, wo sie seine Haut berührten. Plötzlich fühlte er sich ganz klein. Zusammengekauert in einem Käfig. Allein mit den Gedanken und Gefühlen, die ihn überrumpelten, wie eine Welle. Der Sauerstoff in seinen Lungen wurde zwanghaft herausgepresst. Er wollte atmen, doch erstickte an der Schuld. Wieso war das geschehen? Wieso hatte er das zugelassen? Vielleicht war er das wahre Monster in der Geschichte.

Kaum vernahm der Schwertkämpfer Magnus wildes Gelächter. Ebenso wenig vernahm er Nachtsterns verzweifeltes Schreien. Sie schrie nach Luna. Schrie nach ihrer besten Freundin. Flehte, dass das Leben noch nicht aus ihrem Körper entflohen war. Doch die Zeichen waren eindeutig. Kein Atem, kein Puls, all das Blut, das die Wunde in ihrer Brust umspielte. Ein furchterregendes Spiel von klaffendem Fleisch und eiskaltem Rot. Es machte ihn wahnsinnig. Nie war etwas so grausam zu ihm gewesen, wie dieser Anblick. Ryu konnte sich nicht abwenden. Er konnte nicht vergessen. Es verfolgte ihn wie ein Fluch. Sie durfte nicht tot sein. Luna durfte nicht tot sein. Ryu flehte bitterlich, wie auf Knien und in vollster Verzweiflung. Wenn er wirklich existierte, der Erste, er musste ein Wunder walten lassen. Er musste sie zurückbringen. Auch wenn es bedeutete, sein Leben gegen ihres zu tauschen. Ryu hatte das verletzt, was er eigentlich hätte beschützen sollen. Das Anrecht zu leben hatte er mit diesem Fehler verloren. Er würde alles tun. Wirklich alles, aber jemand sollte sie zurückbringen. Dieses groteske Bild reinigen.

Mit ihren letzten Kräften und weil Magnus den Druck auf ihren Kopf verringert hatte, gelang es der Drachendame ihrem Peiniger zu entkommen. Aber an einen Kampf war nicht zu denken. So schnell sie konnte, rannte sie Luna. Tränen spickten ihre Augen, als sie vor ihrem toten Körper stoppte. »Nein. Nein. Nein.« Sie wiederholte es immer wieder. »Nein. Nein. Nein. Nein.« Mit ihrer Schnauze stupste sie Luna an, berührte ihren Arm, leckte über ihre Wange und horchte dann nach ihrem Puls. Je länger sie in der Position verweilte, desto deutlicher wurde es. Da war nichts. Kein lebendiges Klopfen. Kein glückliches Hüpfen. Nur Stille. Mehr nicht.

Es dauerte eine Weile, bis Nachtstern verstanden hatte. Dann drehte sie sich um und breitete drohend ihre Flügel aus. In ihrem Maul formten sich Flammen. Glühendes Feuer, das sich direkt auf Ryu richtete. Der Anführer erstarrte. Selbst wenn er gekonnte hätte, wäre er nicht gerannt. Er hatte ihr das Wichtigste auf der Welt genommen. Luna und Nachtstern waren mehr als Freunde gewesen. Sie waren Familie gewesen. Als jemand, der seine Familie auf ähnliche Weise verloren hatte, konnte er verstehen. Er wusste, wie sie fühlte. Blanker Hass stand in ihren Augen geschrieben, aber auch der Schmerz, wie tausend Pfeile, die auf sie einprasseln zu schienen. Ryu konnte nicht rennen, weil er sich seiner Schuld stellen musste. Was gab ihm das Recht, Oliver töten zu wollen, wenn er jetzt Nachtsterns Handeln verurteilen würde? Gleiches mit Gleichem. Leben um Leben. Mord durch Mord.

Das Leiden der TeufelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt