Kapitel 6 - Die zweite Stufe

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𝐃𝐈𝐄 𝐙𝐖𝐄𝐈𝐓𝐄 𝐒𝐓𝐔𝐅𝐄

Es dauerte eine Weile, bis Luna die Hütte betrat. Ryu machte ihr keine Verwürfe, da er genug Beschäftigung im Kochen fand. Das Abendessen sollte in wenigen Minuten serviert werden. Für den heutigen Tag hatte er das Fleisch eines Wildschweins zusammen mit einer kräftigen Pilzsoße zubereitet. Beim Braten musste er besonders vorsichtig sein. Niemand zog es vor trockenes Fleisch zu essen, wenn es eine zarte Rötung besitzen und das Aroma im Mund zerlaufen könnte. Letztendlich blieb Fleisch seine Spezialität. Allein bei dem Gedanken gleich speisen zu können, hörte er seinen Magen grummeln. Aber welcher Koch aß seine Speisen allein am Herd, noch während sie in der Zubereitung standen? Das wäre ziemlich ungehobelt von ihm.

»Estelle?«, fragte Ryu und beugte sich nach hinten, um die Todesgöttin besser betrachten zu können. Dabei ließ er keine Sekunde von der Pfanne ab. »Ich bin gleich fertig. Könntest du den Tisch decken?«

Estelle, die ohnehin am Esstisch gesessen und ihre Maske poliert hatte, richtete ihren Blick auf. Die weiße Gesichtsbedeckung, welche von Stirn bis zur Nase reichte, war das Markenzeichen aller Todesgötter. Außenstehende würden sie als ungewöhnliches Schmuckstück betrachten. Einen Gegenstand, den nur diejenigen trugen, dessen Identität unbekannt verweilen sollte, aber die Kaodor - so lautete die offizielle Bezeichnung - waren ein Ausdruck der Magie der Todesgötter. Eine Magie, die nur sie verwenden konnten. Als Hüter der Grenze zwischen Leben und Tod und als Begleiter der Seelen oblag ihnen das Privileg einen geistigen Gefährten zu besitzen, deren Kräfte sie nutzen konnten. Diese Geister, welche aus den Seelen von Tieren und Fabelwesen stammten, banden sich durch ein Ritual an ihren Meister. Soweit Estelle es ihm erklärt hatte, war die Kaodor der einzige Weg auf die Fähigkeiten eines Seelenbegleiters zurückzugreifen. Sobald sie die Maske aufsetzten, würden sich ihre Seelen verbinden und unglaubliche magische Fähigkeiten erlangen. Ryu hatte ihre Kaodor schon oft im Einsatz gesehen und jedes Mal erstaunte es ihn, wie viel Macht sich hinter diesem freundlichen Gesicht versteckte. Nicht umsonst hatte man Estelle als Wunderkind bezeichnet.

»Selbstverständlich, Anführer.« Estelle nickte ihm zu, befestigte die Kaodor an ihrer Hüfte und öffnete den Küchenschrank, in welchem sich das Geschirr befand.

»Soll ich dir behilflich sein?«, hakte Luna nach. Sie saß auf dem Bett und streichelte Nachstern, welche eingerollt auf ihrem Schoß lag. Die Drachendame hielt die Augen geschlossen und schnurrte leise. Ein Ausdruck vollkommener Zufriedenheit. Manchmal erinnerte Nachtstern Ryu mehr an eine Katze als an einen gefährlichen Schattendrachen.

Estelle winkte ab. »Das müsst Ihr nicht, aber ich bedanke mich für die Nachfrage, Miss Luna.«

Nach fünf Minuten stand das Essen endlich auf dem Tisch und Ryu sprach sein stummes Stoßgebet kaum hatten alle Platz genommen. Dann begannen er das Essen auf die Teller zu verteilen und wünschte einen guten Appetit.

Das Abendbrot verlief ohne besondere Ereignisse. Luna schien sich inzwischen an ihre Anwesenheit gewöhnt zu haben. Die Hütte war klein, besaß kaum Platz für vier Personen, aber hier war es warm und herzlich. Als würde der Krieg und all das Leiden nicht existieren. Ryu würde diese Wärme vermissen, sobald sie voneinander Abschied nähmen. Ob sich ihre Wege danach ein weiteres Mal kreuzen würden, vermochte nur der Erste zu wissen. Luna besaß das große Glück unangetastet von der Herrschaft der Drachenteufel zu sein. Für sie machte es keinen Unterschied, ob Benela in Flammen aufginge. Ihre einzige Sorge war das Essen für den nächsten Tag. Selbst in seinen Gedanken klangen diese Aussagen hart, aber er hatte recht, oder? Wenn er könnte, würde er mit ihr tauschen, aber für seine Rache und für Benela musste er funktionieren. Er würde niemals seinen inneren Frieden finden, wenn die Welt feuerrot loderte. Dennoch würde er ihre Gesellschaft vermissen. Nachtstern und Luna besaßen liebenswerte Persönlichkeiten. Falls er überlebte, würde er sie besuchen und sie würden gemeinsam an dem kleinen Esstisch speisen. Das war ein Versprechen, das er um sein Herz legte.

Das Leiden der TeufelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt