Kapitel 1

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Montagmorgen. Ich sah auf meine Uhr, die ich am linken Handgelenk trug. 07:20 Uhr. Zu früh für mich. Hinter den Zahlen sah man eine leicht geschwungene Zeichnung. Es waren die sieben Kontinente. Ich hatte diese Uhr damals im Urlaub in Italien gekauft. Langsam wandte ich den Blick ab und ließ den Arm sinken. Es war Zeit. Zeit loszufahren. Zur Schule. Ich war eine junge Lehrerin, hatte seit zwei Jahren mein Studium erfolgreich abgeschlossen und arbeitete nun an einem Gymnasium. Die Arbeit mit den jungen Menschen gefiel mir sehr. Ich hatte viel Spaß und unterrichtete Deutsch und Sport. Nun waren die sechs Wochen Sommerferien vorbei. 

Ich suchte mir eine weiße lockere Bluse und meine schwarze Röhrenjeans in der Wohnung zusammen. Dazu zog ich braune Römersandalen an. Die Haare trug ich offen. Sie waren dunkelbraun und gingen mir etwas über die Schulter. Dann schnappte ich mir meine Tasche, nahm den Schlüssel von der Kommode, wagte einen letzten Blick in den Spiegel und ging zum Auto. Ich stieg in meinen schwarzen BMW 1er und atmete kurz tief durch. Hatte ich an alle wichtigen Dinge gedacht? Ich ging es im Kopf durch und überprüfte meine Tasche - alles da. Dann steckte ich den Schlüssel in die Zündung. Es konnte losgehen, dachte ich. Ich setzte den Blinker und fuhr von meinem Parkplatz. Bis zur Schule brauchte ich ungefähr acht Minuten mit dem Auto. Ich drehte das Radio laut auf, öffnete mein Fenster und eine leichte Brise Wind wehte mir durch die Haare. Das tat gut. Die Zeit verging schnell, dann sah ich auch schon das alte vertraute Schulgebäude. Die meisten Schüler waren schon da und standen in kleinen Grüppchen auf dem gesamten Schulhof verteilt. Natürlich, dachte ich und ein Schmunzeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Sie hatten sich viel zu erzählen. 

Als ich ausstieg, grüßten mich einige Schüler und wünschten mir einen guten Morgen. Einige Mädchen aus meiner Klasse fragten mich: »Schöne Ferien gehabt, Frau Melling?« Ich nickte und erkundigte mich ebenfalls bei ihnen. »Wir sehen uns gleich«, wisperte ich und ging in Richtung Eingang. Dort traf ich auf meine beste Freundin Luisa. Sie war ebenfalls Lehrerin hier an der Schule. Wir hatten uns in den Ferien gesehen, aber schnatterten trotzdem noch etwas, bis es dann klingelte. Die ersten beiden Stunden hatte ich in Klasse 12 Unterricht. Seit einem Jahr war ich ihre Klassenlehrerin und eigentlich recht zufrieden mit ihnen. Ich betrat den Raum. Es wurde getuschelt und gelacht. Einige bemerkten mich noch gar nicht. Ich räusperte mich laut und zog somit alle Blicke auf mich. »Geht doch. Setzt euch bitte. Ich möchte anfangen.« Sie taten es ohne Widerrede. Ich erklärte meinen Schülern den Verlauf der Stunden. Wir wollten über die Ferien sprechen und belehren musste ich sie auch. Wie jedes Jahr. Als wir gerade mitten im Gespräch waren, klopfte es an der Tür. Herr Harris, der Schulleiter, trat ein. Er schaute durch die Klasse und gab mir dann die Hand. Erst jetzt bemerkte ich das Mädchen hinter seinem Rücken. Er drehte sich zu den Schülern. 

»Ihr habt ab heute eine neue Mitschülerin. Vielleicht stellst du dich am besten selbst kurz vor«, forderte er sie auf. Sie wirkte etwas nervös. »Ich bin Julia Wagner, 18 Jahre alt und bin in den Ferien jetzt mit meiner Familie hergezogen.« Gott, was hatte sie bitte für eine Stimme? Sie war ruhig und gleichmäßig, aber gleichzeitig auch etwas verrucht. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ihre Augen waren hellbraun und ihre Haare ebenso. Obwohl - oben waren diese sogar noch etwas dunkler. Ihr Blick wanderte durch die Klasse und blieb an mir hängen. Sie lächelte mich an. Ihre Lippen waren schön geformt und ich konnte kleine Grübchen erkennen. Alle sahen mich erwartungsvoll an. »Frau Melling?«, fragte Herr Harris mit Nachdruck und strich sich über sein Kinn. Eine frische Rasur würde ihm gut tun, dachte ich. »Wie bitte?« Ich hatte etwas die Fassung verloren. Dieses fremde Mädchen brachte mich durcheinander, aber ich wusste nicht, weshalb. Sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. 

»Wo darf Julia sich hinsetzen?«, wiederholte er seine Frage. »Neben Nina ist noch ein Platz frei«, antwortete ich schnell und zeigte in ihre Richtung. Er verabschiedete sich und ich setzte mich. Ein- und ausatmen. Puh. Ich forderte die Klasse auf, weiter von den Ferien zu erzählen und bereitete die Belehrung vor. Als ich kurz aufschaute, traf Julias Blick mich. Ich wollte ihm standhalten, aber musste dann hastig wegsehen. Als jeder etwas erzählt hatte, rief Lars aus der hinteren Reihe: »Julia hat noch nichts erzählt.« Alle stimmten ihm zu. »Ja, richtig. Ähm, was hast du denn in den Ferien gemacht?«, fragte ich sie und lächelte sie aufmunternd an. »Da wir ein Haus gebaut haben, war ich damit ziemlich beschäftigt. Wir haben renoviert und alles eingerichtet«, sagte sie sanft und bestimmt. Dann kam eine Gegenfrage von ihr, mit der ich nicht gerechnet hatte. 

»Was haben Sie denn gemacht?« Ein süßes Grinsen umspielte ihre Lippen. »Ich bin verreist mit einer Freundin. Wir waren in Abu Dhabi.« Das sollte als Antwort genügen. Wir führten die Belehrungen durch und dann klingelte es zur Pause. Alle liefen aus dem Raum. Bis auf Julia. Ich packte meine Sachen zusammen. Als ich aufsah, stand sie direkt vor meinem Tisch. Vor Schreck hielt ich kurz die Luft an. »Wo finde ich denn das Sekretariat?«, fragte sie höflich. Ich zeigte ihr den Weg und musterte sie. Ein sehr nettes Mädchen, stellte ich fest. »Wir sehen uns morgen«, sagte ich und winkte ihr zu. »Ja, bis morgen.« Dann war sie verschwunden, um die letzten Anmeldeformulare auszufüllen. Der erste Tag verging schnell. Alle waren noch ganz aufgeregt und richtigen Unterricht konnte man da nicht machen. Aber es war der erste Tag. Wir mussten uns alle erst wieder an die Schule gewöhnen. Im Gang traf ich auf Luisa. »Die ersten Stunden gut überstanden?« Sie zwinkerte mir zu. »Ja, die waren super«, antwortete ich etwas abwesend. Sie runzelte die Stirn. »Alles okay bei dir?« Nun war ihre Stimme ernster. »Natürlich ist alles okay. Was sollte denn auch sein? Du, ich muss jetzt mal weiter.« Ich fragte nicht, wie ihr Tag war. Mir gingen so viele andere Dinge durch den Kopf. 

Nach der letzten Stunde stieg ich ins Auto und verließ den Parkplatz. Zu Hause angekommen, schnappte ich mir ein Buch und setzte mich auf die kleine Terrasse, die zu meiner Wohnung gehörte. Ich fing an »Geheimer Ort« von Tana French zu lesen, merkte aber nach kurzer Zeit, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Vor meinen Augen sah ich Julias rehbraune Augen. Schnell wischte ich den Gedanken an sie weg und versuchte mich abzulenken. Aber das Letzte, woran ich dachte, war: »Sie war so wunderschön, wenn sie lächelte.«

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt