Kapitel 15

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Als ich am nächsten Morgen mit einem breiten Lächeln aufwachte, konnte ich noch gar nicht wirklich realisieren, was mit Julia und mir passiert war. Es fühlte sich an, als würden wir uns schon Jahre kennen und nicht erst ein paar Wochen. Das machte mir Angst. Meine Gefühle machten mir Angst. Wie sollte es mit uns beiden weitergehen? Wenn jemand mitbekam, dass wir beide... Oh, Gott. Ich wollte gar nicht daran denken. Eine schreckliche Vorstellung. Ich musste schlucken. Mein Handy piepte. Nachricht von Julia.

„Guten Morgen, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ich habe die ganze Nacht an dich gedacht.« Eine einzige Nachricht von ihr und mein Herz machte Luftsprünge. „Morgen, mir ging es genauso.« Heute gab ich mir richtig Mühe mit meinem Aussehen. Ich wollte schön für sie sein, was ziemlich albern war. Ich wollte noch nie für eine andere Frau schön sein. Niemals hätte ich gedacht, dass ich mir mit dem gleichen Geschlecht mehr vorstellen könnte. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber für mich selbst kam es nie in Frage. Jeder konnte lieben, wen er wollte. Ob nun Frau oder Mann. Erfahrungen hatte ich aber bisher nur mit Männern. Aber Julias Küsse waren so viel schöner. Sie machten mich verrückt. Ich verdrängte den Gedanken, dass sie meine Schülerin war. Mal wieder. Schnell machte ich mich fertig und fuhr überpünktlich zur Schule mit der Hoffnung, dass ich Julia dort antreffen würde. Doch der Schulhof war noch menschenleer. Enttäuscht stieg ich aus und ging in das Gebäude. Gedankenverloren lief ich durch die Gänge.

Plötzlich packte mich jemand am Arm, zog mich in ein noch leeres Klassenzimmer und ich schrie vor Schreck auf. Mein Schrei wurde mit einem Kuss unterdrückt. Julia! »Musst du mir so eine Angst einjagen?«, fragte ich sie atemlos, nachdem unsere Lippen sich voneinander lösten. Sie grinste nur. Panisch sah ich mich um, aber es war niemand zu sehen. »Wir müssen vorsichtig sein. Wenn das rauskommt, dann verliere ich meinen Job.« Aber selbst das hielt mich nicht davon ab, sie wieder zu küssen. »Ich weiß«, hauchte sie mir zu. »Wie soll ich dich denn nur normal behandeln?« Sie sah mir tief und fest in die Augen. »Nele, ich bin kein kleines Kind mehr. Wir bekommen das hin. Davon bin ich fest überzeugt. Es ist doch nur noch ein knappes Jahr.« Ich stöhnte. »Nur noch? Das kann ganz schön lang werden, glaub mir.« Dann legte sie mit einem »Psst« wieder ihre Lippen auf meine. Ich wollte nie wieder aufhören damit. Plötzlich klingelte es und wir fuhren auseinander. Verwirrt sahen wir beide uns an. »Schon so spät?«, fragte ich ungläubig. »Die Zeit mit dir vergeht einfach immer so schnell«, meinte sie und seufzte. Ein letzter Kuss, dann verschwand Julia. Ich wartete einen Moment, dann folgte ich ihr. Eilig ging ich mit schnellem Schritt ins Lehrerzimmer, um mir meine Vorbereitung für den Unterricht zu besorgen. Dann entdeckte Luisa mich.

»Nele, wie geht es dir?«, fragte sie mich mitfühlend und ich bemerkte, dass meine Wangen heiß wurden und ich errötete. »Ganz okay.« Was sollte ich ihr auch sagen? »Lass uns heute Abend weggehen«, schlug sie vor. »Ich weiß nicht, ob...«, antwortete ich, aber sie unterbrach mich bereits. »Das war keine Frage.« Sie zwinkerte mir zu. »Du brauchst Ablenkung. Du musst dieses Mädchen aus deinem Kopf verschwinden lassen.« Wenn sie wüsste, dass »dieses Mädchen« mit meinem Herz verankert war und wir uns nicht in Ruhe lassen konnten, würde sie... ja, was würde sie tun? Würde sie es verstehen? Würde sie mich davon abhalten? Ich hatte absolut keine Ahnung. »Du hast recht«, gab ich klein bei. »Wusste ich es doch. Ich hol dich um 19 Uhr ab.« Sie umarmte mich und verließ dann flüchtig den Raum. Auch ich musste mich beeilen, denn ich wollte nicht unpünktlich sein.

Als ich das Klassenzimmer betrat, wanderte mein Blick zuerst zu Julia. Sie saß dort und tat so, als wäre zwischen uns nie etwas passiert. Das verletzte mich komischerweise, was ziemlich dumm war. Immerhin war es so abgesprochen. »Guten Morgen«, wünschte ich allen und setzte mich. Heute stand die Erörterung auf dem Plan. Erst wurden eigene Gedanken notiert, Teilüberschriften gefunden und wir bildeten zusammen die Thesen. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich zu Julia sah und meinen Blick nicht abwenden konnte. Wie sollte ich das bitte noch fast ein Jahr aushalten? Dann hob sie leicht den Kopf und lächelte mich an. Automatisch musste ich auch lächeln. Dann widmete sie sich wieder den Aufgaben und ich arbeitete weiter. »Frau Melling?« Ich hob den Kopf. »Ja, Julia?«, fragte ich sie und meine Stimme zitterte leicht. »Kann ich mal auf die Toilette gehen?« Puh. »Ähm, klar.« Sie stand auf und machte sich auf den Weg. Ich wollte ihr nah sein. Jetzt. 

»Ich bin gleich wieder da«, murmelte ich der Klasse zu. Dann folgte ich Julia. Als sie sich die Hände wusch und abtrocknete, schlich ich mich von hinten an sie heran. »Oh«, schrie sie leise, aber schnell legte ich meine Hand auf ihren Mund. »Ich konnte nicht anders. Es ist so schwer für mich. Du sitzt in der Klasse und bist meine Schülerin. Und es gibt nichts, was ich lieber tun würde, als dich zu küssen. Aber es geht nicht.« Sie legte ihre Hände in mein Gesicht. Wir küssten uns und für einen Moment war wieder alles perfekt. Aber wir mussten zurück in den Unterricht. Julia hielt meine Hand noch immer fest. »Hast du heute Abend schon etwas vor?«, fragte sie mich. »Ja, ich bin mit einer Freundin verabredet. Aber du kannst gern morgen Abend vorbeikommen, wenn du magst.« Sanft ließ ich meine Finger über ihre Hand gleiten. Sie nickte und als sie zuerst den Raum verließ, warf sie mir noch einen Handkuss zu. Am liebsten hätte ich sie wieder zurück zu mir gezogen, aber wir waren in der Schule und mussten vorsichtig sein. Dass es verboten war, war schon schlimm genug, aber es reizte mich und das war viel schlimmer.

Dann ging ich auch zurück ins Klassenzimmer. Einige Stunden später fuhr ich nach Hause. Dann machte ich mich fertig und Luisa holte mich ab. Wir gingen in die Strandbar. Sie zeigte nach rechts und ich sah, dass dort am Tisch Luisas Freund und noch ein anderer Mann saßen. Leise flüsterte sie mir ins Ohr: »Ich habe für etwas Ablenkung gesorgt.« Ich konnte ein Grinsen in ihrer Stimme hören. Dann schob sie mich vorwärts, bis wir vor dem Tisch standen. »Hallo, schön dich kennenzulernen. Luisa hat schon viel von dir erzählt. Ich bin Michael.« Er hatte ein strahlendes Lächeln und sah auch wirklich nicht schlecht aus. Ich wusste, dass Luisa nur wollte, dass es mir gut ging, aber wie sollte ich aus der Sache nur wieder rauskommen? Ich musste schlucken. Für mich gab es doch nur noch Julia.

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt