Kapitel 3

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»Nele, warte doch mal«, rief jemand. Ich blieb mitten im Schulflur stehen und drehte mich um. Luisa kam auf mich zu gerannt. »Ich laufe dir hier die ganze Zeit nach und rufe deinen Namen. Und du reagierst einfach nicht?« Ich hatte sie gar nicht gehört. Ich entschuldigte mich dafür. »Meine Klasse raubt mir schon wieder die Nerven«, erzählte sie und wir gingen nebeneinander her. Dann klingelte es. Gott sei Dank, dachte ich. Ich hatte keine Lust auf Smalltalk und marschierte ins Klassenzimmer. Und dachte an Julia. Warum hatte sie gestern nur so komisch reagiert? Und verschwand so plötzlich? Wieso steigerte ich mich da so rein? Fragen über Fragen. Aber eigentlich konnte es mir doch auch egal sein. Die letzten Schüler setzten sich und ich fing mit meinem Unterricht an. Ich verteilte die Blätter zum Thema »nackt sein« und merkte, wie Julia mich mit ihren Augen verfolgte. Als ich vor ihrem Tisch stand, sagte ich: »Sehr gut. Wirklich.« Sie nickte mir nur leicht zu, aber ich sah, dass ihre Augen strahlten. Sie fesselten mich für einen Moment. Verdammt. Ich riss mich zusammen und ging nach vorn. 

»Ich habe noch eine wichtige Mitteilung für euch. Übernächste Woche kommen einige Austauschschüler zu uns. Wir planen einen Aktionstag und ich würde mich freuen, wenn sich alle beteiligen würden. Es soll Kuchen und Kaffee verkauft werden. Außerdem bieten wir einige Führungen durch die Schule an, weil wir ihnen zeigen wollen, wie unser Alltag hier in Deutschland ist.« Das weckte ihr Interesse. Alle hörten zu und wollten helfen. Wir verteilten die Aufgaben. Julia teilte sich freiwillig für den Verkauf ein. Da sie dies nicht alleine machen sollte, brauchten wir eine zweite Person. Aber niemand sonst wollte ihr helfen. Sie hatten sich bereits andere Aufgaben ausgesucht. »Haben Sie denn schon eine Aufgabe?«, fragte sie. »Noch nicht«, antwortete ich. »Jetzt schon«, grinste sie frech. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? »Gut, dann schreibe ich uns beide für den Stand ein.« Damit war das Thema erledigt. 

Den Rest der Stunde ignorierte ich sie. Ich konnte sie unmöglich ansehen. Mir gefiel ihre Art. Wie sie mit mir sprach. Sie nahm das alles vollkommen locker. Ich dagegen verkrampfte innerlich. Julia machte mich nervös und ich wusste nicht, wie oft ich das in den letzten 48 Stunden gedacht hatte. Ich wischte die Tafel ab, als alle das Klassenzimmer verließen. Dann hörte ich ein Geräusch. Ruckartig drehte ich mich um. Sie stand dort, Julia. Sah mich an. »Da ich neu in der Stadt bin, wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust haben, mir die Stadt etwas zu zeigen? Wir könnten auch ein Eis essen gehen.« Ich erstarrte. Atmete durch. »Das ist lieb, dass du da an mich denkst. Aber ich halte es für keine gute Idee. Frag am besten Nina. Sie wohnt auch schon lange hier und macht das sicherlich gern«, brachte ich hervor. Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich es gern machen würde. Ich war immerhin ihre Lehrerin! Ich wollte mein Privatleben von meinem Beruf trennen. Da konnte auch keine Julia Wagner etwas daran ändern. »Okay, schade.« Ich konnte in ihren Augen Enttäuschung erkennen. »Tut mir leid«, sagte ich noch, aber sie stürmte schon in den Flur. Warum fragte sie ausgerechnet mich? Ich war komplett verwirrt. Wann hatte ein Mensch mich das letzte Mal so durcheinander gebracht, den ich gar nicht wirklich kannte? Vor allem eine so junge Frau. Eine Schülerin. Ich brauchte Ablenkung und betrat kurze Zeit später das Lehrerzimmer. 

Luisa saß am Tisch und bereitete ihren Unterricht vor. »Hey, hast du Lust heute Abend etwas trinken zu gehen?« Sie schaute zu mir auf. Ich sah ihre geraden Zähne. Sie lächelte. »Klar, gern. Ich hol dich um 20 Uhr ab?«, fragte sie erfreut. Ich nickte. Der restliche Tag zog sich endlos hin. Nach der sechsten Stunde fuhr ich nach Hause. Dort bereitete ich mein Abendbrot vor und suchte mir ein passendes Outfit für den Abend raus. Um kurz vor 20 Uhr klingelte es meiner Tür. Luisa. Wir entschieden uns für eine kleine, aber gemütliche Cocktailbar direkt am Wasser. Sie erzählte mir von ihrem Freund und wie perfekt alles lief. Dann konnte ich mir einen langen Vortrag anhören, dass mir ein Mann auch mal wieder gut stehen würde. Ich wollte das nicht hören. Also wechselten wir das Thema. Nach einigen leckeren Cocktails musste ich auf die Toilette. Die Bar hatte sich mittlerweile gut gefüllt. Die Musik wurde lauter. In der Menschenmenge sah ich plötzlich Julias Gesicht. 

Erst dachte ich, dass es nur Einbildung war. Doch dann tauchte auch Ninas Gesicht neben ihr auf. Nina zeigte ihr also die Stadt. Dann erblickte ich einen Hinterkopf direkt neben Julia. Ein junger Mann. Er zog sie zu sich ran und die beiden küssten sich. Es war Lars, dachte ich verbittert. Ein Klassenkamerad. Eigentlich sollte ich mich freuen, dass sie gleich guten Anschluss gefunden hatte. Aber warum musste sie es so schnell angehen lassen? Ich wurde wütend, aber hatte doch eigentlich gar keinen Grund dazu. Schnell schlich ich mich auf die Toilette und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Ich hörte ein lautes Lachen immer näher kommen. Die Tür ging auf und Julia stürmte hinein. Ihr Lachen verstummte. Mir wurde plötzlich ganz heiß. »Oh, hallo«, grüßte sie mich etwas angetrunken, blieb stehen und betrachtete mich von oben bis unten. »Guten Abend«, konnte ich nur förmlich herausbringen. Sie ging in die Toilettenkabine. 

Ich lief zu Luisa zurück. »Lass uns bitte gehen. Ich muss morgen wieder früh raus und bin erledigt für heute.« Sie gähnte. »Ja, ich auch.« Meine beste Freundin brachte mich noch nach Hause. »Wir sehen uns morgen«, sagte sie fröhlich und wir verabschiedeten uns. Küsschen links, Küsschen rechts. So wie sich das gehörte. Dann wollte ich nur noch ins Bett. Schnell zog ich mich um und schlüpfte unter eine dünne Decke. Ich nahm meinen iPod und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Ich wählte »Wie soll ein Mensch das ertragen?« von Philipp Poisel aus. »Könnte ich einen einzigen Tag nur in meinem Leben dir gefallen, um dann ein einziges Mal nur in deine Arme zu fallen...« Ich musste an Julia und an ihr wunderschönes Lächeln denken. Wie die letzten drei Tage. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit mir machte, wenn sie lachte. Und das durfte nicht sein. Es war so falsch, fühlte sich aber gleichzeitig auch verdammt richtig an.

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt