Kapitel 19

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»Michael, was tust du denn hier?«, schrie ich etwas panisch auf und schlug mir vor Schreck die Hand auf den Mund. »Was tust DU denn hier?«, stellte er die Gegenfrage. Was sollte ich sagen? Ich war zu verwirrt, um seine Frage richtig zu deuten. »Das geht dich gar nichts an, was ich hier mache. Woher weißt du, dass ich hier bin?« Ein böses Schnauben seinerseits. »Eigentlich bin ich hier, weil dein Auto in der Auffahrt stand. Ich war gerade eine Runde joggen.« Ich sah an ihm herunter. Er hatte einen Jogginganzug an. »Und deshalb klingelst du hier einfach? Bei fremden Menschen an der Haustür? Was willst du denn?« Er schob die Lippe hervor, die langsam zu zittern anfing. »Warum bin ich dir nicht gut genug? Warum sagst du mir nicht einfach, dass du einen anderen Kerl hast?«, fragte er wütend. Sein plötzlicher Stimmungswechsel irritierte mich. Er ging gar nicht auf meine Fragen ein. Ich hatte das Gefühl, dass wir aneinander vorbei redeten. Mir fehlten die Worte. Träumte ich? Oder stand er wirklich hier vor Julias Haustür und veranstaltete dieses Theater?

»Erstens habe ich keinen anderen Kerl und selbst wenn es so wäre, geht dich das nichts an. Ich dachte, dass du das endlich begriffen hast.« Was bitte lief hier verkehrt? »Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Wie gesagt, etwas Abstand wird uns beiden gut tun.« Er schüttelte wild den Kopf. Das machte mir Angst. Ich wollte die Tür schließen, doch er stellte seinen Fuß dazwischen. »Lass mich in Ruhe«, rief ich ihm zu. In diesem Moment kam Julia die Treppe herunter. »Was ist hier los?«, fragte sie und ihre Augen wurden groß bei diesem merkwürdigen Anblick. Plötzlich zog Michael seinen Fuß zurück und stieß die Tür auf. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie ihn mit fester Stimme. Sein Blick entspannte sich, als er Julia sah. Jetzt ergriff ich die Chance und erklärte ihm schnippisch: »Wenn du es genau wissen willst... ich bin zu Besuch bei einer Freundin. Und jetzt verschwinde!« Mit diesen Worten flog die Haustür dann zu. Ich sackte an der Tür zusammen. »Was wollte er von dir, Nele?«, fragte Julia vorsichtig. »Das war doch dieser Michael, oder? Woher weiß er, dass du bei mir bist?« Ich nickte heftig und schüttelte dann den Kopf. »Er hat sich wohl in mich verliebt. Er meinte, er hat mein Auto stehen sehen. Aber das ist doch verrückt. Deshalb klingelt man doch nicht bei fremden Menschen.« Sie schüttelte auch den Kopf. »Nein, das macht man nicht. Das ist wirklich komisch.«

Draußen hörten wir ihn laut sagen: »Es tut mir leid. Wirklich.« Dann entfernte er sich vom Haus. Julia nahm meine Hand und wir gingen zurück in ihr Zimmer. »Alles ist gut. Ich bin hier.« Sie versuchte, mich abzulenken und schaffte es. Nach einiger Zeit beruhigte ich mich. Trotzdem verstand ich ihn nicht. Aber ich wollte jetzt nicht daran denken. Ich war jetzt hier. Bei Julia. Das war alles, was zählte. »Danke, dass ich hier bei dir sein darf.« Sanft streichelte sie mir über den Arm. »Bitte bleib über Nacht. In diesem Zustand möchte ich dich ungern alleine lassen.« Ich nickte. »Mir geht es wieder gut. Ich war nur etwas geschockt. Warum tut er das? Ich meine, selbst wenn er mich irgendwie toll findet, ist das doch ganz schön dreist von ihm. So ein peinliches Auftreten, ohne Witz.« Dann erzählte ich ihr, was heute im Café passiert war. Erstaunt hörte sie zu. »Er hört sich nicht ganz so super an, wie du am Anfang meintest. Er wirkt sogar etwas... ja, aggressiv.« Da konnte ich ihr nur zustimmen. So kannte ich ihn nicht. Vielleicht würde ich bald noch einmal mit ihm reden. Für heute war das Thema für mich jedenfalls erledigt.

»Warst du denn jetzt eigentlich schon duschen?« Lachend schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich habe auf dich gewartet die ganze Zeit.« Ich stand auf und zog sie hoch. »Dann komm, gehen wir duschen«, meinte ich kichernd. Mit ihr fühlte ich mich unbeschwert. Das fehlte mir die letzten Jahre sehr. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie unvollkommen ich ohne Julia war. Sie hatte meine Welt komplett auf den Kopf gestellt und nun fehlte mir nichts mehr. Wir zogen uns aus, stiegen in die Dusche, schäumten uns gegenseitig ein und zogen uns Kreise über die Haut. Ihr nackter Körper brachte mich um den Verstand. Unter dem Wasserstrahl küssten wir uns leidenschaftlich und einige Minuten später kuschelten wir uns wieder ins Bett. »Wie stellst du dir eigentlich deine Zukunft vor?«, fragte ich Julia neugierig. »Eigentlich denke ich da nicht oft dran. Ich genieße die Gegenwart. Aber wenn du es genau wissen willst, dann wünsche ich mir eine Zukunft mit dir. Ich weiß, dass es total verrückt klingt, aber ich habe dir mein Herz geschenkt. Pass bitte immer gut darauf auf. Ich weiß, dass es bei dir in guten Händen ist.« Mein Herz überschlug sich vor Freude. Stille. Dann stellte sie die Gegenfrage: »Wie sieht deine Zukunft aus?« Ich überlegte einen Moment. »So ähnlich. Ich möchte auf jeden Fall in meinem Beruf bleiben. Auch wenn es momentan etwas schwierig ist. Diese ganze Sache mit uns lässt mich darüber anders denken. Ich hätte einfach nie gedacht, dass mir so etwas passiert und dass ich mich in meine Schülerin verliebe. Und ich möchte auch, dass du bleibst und dass es dir gut geht und du glücklich bist.«

Ihre Lippen waren nah an meinem Gesicht. Ich konnte ihren Atem spüren. Er brannte förmlich an meiner Wange. »Du hast Glück gehabt. Richtig glücklich bin ich erst, wenn du da bist. Glaube mir, ich bleibe bei dir.« Ich gab ihr einen Kuss, dann schloss ich die Augen. »Es war ein wirklich toller Abend. Bis auf die Sache mit Michael. Ich hoffe, es folgen noch viele weitere davon.« Dann schlief ich in ihren Armen ein. Irgendwann in der Nacht wurde ich wach. Es war dunkel. Nur ein einziger Lichtstrahl erleuchtete das Zimmer. Das spärliche Licht fiel genau auf Julias Gesicht. Ich hörte sie gleichmäßig atmen und betrachtete sie. Ein Lächeln überdeckte ihre Lippen. In diesem Moment war ich mir sicher. Für Julia würde ich ohne Sicherheit alles aufgeben, weil Herzen fühlten und nicht dachten. Dann schlief ich wieder ein.

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt