Kapitel 26

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An die folgenden Stunden konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich wusste noch, dass der Notarzt zu Julia lief und sie behandelte. Und dass man mich zur Seite schob und mir Fragen stellte. Ich hatte geweint. Ununterbrochen. Dann fuhr man sie ins Krankenhaus. Ich wollte nachfahren, aber mein Nachbar fuhr mich, weil ich dazu nicht in der Lage war. Auch ihm wurden Fragen gestellt. Er hatte das Geschehen durch seinen Spion in der Tür beobachtet und hatte gesehen, wie Michael sie geschubst hatte. Das durfte doch nicht wahr sein. Im Krankenhaus gab man mir keine Auskunft über ihren Zustand. Ich weinte immer noch hemmungslos. Als ich im Wartezimmer saß und wartete, kam die Polizei und befragte mich. Ich antwortete wie in Trance. Was genau es war, wusste ich nicht. Sie schrieben Michael zur Fahndung aus. Dieser miese Dreckskerl. Ich hoffte, er würde seine gerechte Strafe bekommen.

Plötzlich sprach mich jemand an. Es waren Julias Eltern. Ich kannte die beiden ja bereits. »Nele«, rief Monika und kam auf mich zu. »Was ist passiert?« Was sollte ich ihnen sagen? Dass es meine Schuld war? »Julia wurde... geschubst«, stotterte ich. »Von wem? Und warum? Wieso war sie mitten in der Nacht bei dir?«, wollte sie wissen und lief umher. Sie war aufgebracht. »Von einem Mann, der mich bedrängt hat. Ich weiß nicht, was sie bei mir wollte«, log ich. »Sie wollte mir irgendetwas sagen.« Ich fühlte mich so schlecht, dass ich ihre Eltern anlog. »Es ist meine Schuld. Wäre sie nicht zu diesem Zeitpunkt gekommen, wäre das alles nicht passiert. Es tut mir so leid.« Wieder fing ich bitterlich an zu weinen. »Ich wollte das doch nicht.«

Sie beruhigten mich und meinten, dass es nicht meine Schuld war. Es war ein Unfall. Ich konnte ihnen unmöglich die ganze Wahrheit sagen. Sie erkundigten sich bei einem Arzt nach Julia und bekamen die Informationen. Ihr Zustand war stabil. Sie war außer Lebensgefahr, obwohl der Sturz ziemlich heftig war. Sie brauchte für heute Nacht Ruhe. Erleichtert atmete ich aus. Morgen durfte sie Besuch empfangen, erklärte der Arzt. Ihre Eltern wollten trotzdem über Nacht bleiben. Mich schickten sie nach Hause, obwohl ich am liebsten auch geblieben wäre. Ich konnte es nicht ertragen, sie alleine zu lassen. Da ich kein Geld dabei hatte, gaben sie mir das Geld für das Taxi.

»Wir danken dir, Nele. Dass du sofort geholfen hast«, bedankten sie sich und mich plagte das schlechte Gewissen. »Ihr müsst diesen Mistkerl unbedingt anzeigen«, redete ich auf sie ein und sie stimmten zu. »Er ist einfach geflüchtet und dass, obwohl er Arzt ist und hätte helfen können.« Dann ging ich nach draußen. Da wurde es bereits hell. Vor dem Krankenhaus drehte ich mich um und flüsterte: »Bis später, Julia. Ich liebe dich.« Dann wurde ich von dem Taxifahrer nach Hause gefahren.

Ich wollte etwas schlafen, aber innerlich war ich viel zu aufgewühlt. Ich musste immer wieder an Julia und an Michael denken. Wenn ich den in die Finger bekam, dachte ich zornig. Ich melde mich in der Schule krank für den Rest der Woche. Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, denn erst am Nachmittag erwachte ich wieder. Ich verspürte keinen Appetit, aber zwang mich trotzdem dazu, einen Apfel zu essen. Dann ging ich duschen, zog mich an und fuhr ins Krankenhaus.

Ich durfte zu ihr. Ihre Eltern waren bei ihr. Die Situation war mir etwas unangenehm. »Wie geht es ihr?«, wollte ich wissen. »Den Umständen entsprechend. Gleich kommt der Arzt. Sie haben diesen Kerl übrigens heute Morgen in seiner Wohnung aufgefunden. Er weist die Schuld von sich, aber wir haben ihn bereits angezeigt.« Gott sei Dank, dachte ich. »Es ist nett, dass du vorbeischaust.« Ich nickte nur. Ich konnte ihnen meine wahren Beweggründe nicht verraten. Dann betrat der Arzt das Zimmer und musterte mich. Monika sagte: »Ist schon in Ordnung, wenn sie dabei ist. Sie ist ihre Lehrerin.« Stumm stand ich neben ihnen.

»Familie Wagner, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute Nachricht ist, dass sie lebt. Sie ist auch nicht in Lebensgefahr.« Mein Herz fing an zu rasen. Was für eine schlechte Nachricht hatte er, wenn sie nicht in Lebensgefahr war? »Was ist... die schlechte Nachricht?«, fragte Monika leise und ihre Stimme zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und auch ich merkte, wie die Stimmung kippte. »Die schlechte Nachricht ist, dass ihr Sturz sehr ungünstig war. Die Untersuchungen haben ergeben, dass es sich um eine Amnesie handelt. Das bedeutet Gedächtnisverlust.« Er machte eine Pause und ich wusste nicht, was ich fühlen und denken sollte. »Dabei muss man beachten, dass es verschiedene Formen und Ausprägungen gibt. Wir müssen abwarten, bis sie wach ist, damit wir ermitteln können, um was genau es sich bei ihr handelt. Wir tippen auf die retrograde Amnesie, was bedeutet, dass Julia alle Ereignisse, die im Zeitraum vor dem Sturz liegen, nicht mehr abrufen kann. Vorherige Bilder oder Zusammenhänge lassen sich nicht mehr ins Bewusstsein holen. Sie kann Sekunden, Minuten, Tage, aber auch Wochen oder Monate dauern. Eine retrograde Amnesie kann sich zwar manchmal wieder aufhellen, aber ein gewisser Gedächtnisverlust bleibt meist bestehen. Wir müssen also abwarten, auch wenn es schwer ist.«

Ich war völlig perplex und verstand absolut gar nichts mehr. Was genau wollte er sagen? Konnte Julia sich an nichts mehr erinnern? Oder nur an den Sturz nicht? Hatte sie all ihre Erinnerungen verloren? Ich hatte große Angst und die Angst nahm Besitz von mir, umklammerte mich und drückte mir die Luft ab. Ich sackte zu Boden. »Es tut mir so fürchterlich leid«, weinte ich und schüttelte immer wieder den Kopf. Björn zog mich hoch. »Du kannst nichts dafür. Wir warten ab, bis sie wach wird.« Aber auch ihnen sah man den Schrecken in ihren Gesichtern an. Julia war ihre Tochter und sie wussten nicht, wie es um sie stand. Ob sie sich überhaupt an etwas erinnerte. »Die Hauptsache ist, dass sie lebt«, stellte er nüchtern fest, aber ich bemerkte, wie er gegen die Tränen ankämpfte. Plötzlich regte sich im Bett etwas.

Wir alle drehten uns ruckartig um. Julia blinzelte und öffnete langsam die Augen. Sofort waren ihre Eltern an ihrem Bett und standen neben ihr. Ich blieb am Bettende stehen. »Mama, Papa, wo bin ich?«, wollte sie wissen und ihre Stimme hörte sich fremd an. »Sie erinnert sich an uns, das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, fragten sie den Arzt voller Freude und er nickte. »Ja, das ist ein gutes Zeichen. Ich werde sie gleich direkt untersuchen. Julia, kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?«, wollte er von ihr wissen und sie schüttelte leicht den Kopf. »Nein, wo bin ich?« Erst jetzt schaute sie sich um und sah mich an. Ihr Blick war anders. So hatte sie mich noch nie angesehen. »Du bist im Krankenhaus, du bist gestürzt.« Ihr Blick blieb an mir hängen. »Und wer sind Sie?«, wollte sie wissen und mein Herz verkrampfte sich. Sie erkannte mich nicht, schoss es mir durch den Kopf. Das war kein gutes Zeichen. »Ich bin es... ähm, deine Lehrerin. Erinnerst du dich an mich? « Sie legte den Kopf zurück und erwiderte: »Nein, überhaupt nicht.« Ich sah den Arzt unsicher an. »Es kann sein, dass sie sich bald wieder daran erinnert. Aber wie ich schon sagte, es besteht auch die Möglichkeit, dass ein gewisser Gedächtnisverlust bestehen bleibt.« Stille im Raum. Es dauerte eine Weile, bis mich seine Worte erreichten.

Der Arzt sagte: »Es wäre wohl besser, wenn ich sie in Ruhe untersuche.« Er wollte damit andeuten, dass wir den Raum verlassen sollten. Und das taten wir. Vor der Tür holte ich tief Luft. »Danke, dass du sie besucht hast. Aber es ist nicht nötig, dass du weiterhin hier bist. Sie braucht jetzt viel Ruhe«, meinte Monika. Es war nicht böse von ihr gemeint, sie dachte natürlich nur an Julia, aber es brach mir mein Herz. Durfte ich sie nicht mehr besuchen? Also drehte ich mich um und verließ das Krankenhaus. Gestern noch sagte sie mir, dass sie mich liebte und heute erkannte sie nicht mal mehr mein Gesicht. Und mit ganz viel Pech... würde sie sich nie wieder an mich und an unsere Zeit erinnern können. Daran wollte ich gar nicht denken. Ich brach zusammen und schlug mir die Knie auf, aber das war mir egal. Ich hatte so fürchterliche Angst, sie zu verlieren.

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt