Kapitel 33

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»Da ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen.« Seine Stimme war leise, damit niemand uns hören konnte. Jetzt war alles vorbei, dachte ich und mein ganzer Körper war gelähmt vor Schock. Ich wartete ab. Konnte ich mich aus der Sache herausreden? Immerhin gab es keine Beweise für unsere Liebe, oder? Julia stand doch so kurz vor ihrem Abitur. Das konnte doch nicht wahr sein. Warum hatten wir nicht abgeschlossen? Ich zerbrach mir so sehr den Kopf, dass ich die Luft angehalten hatte und mein Kopf hochrot war.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt und sah mich mit großen Augen an. Ich schnappte wieder nach Luft, die meine Lunge durchströmte. Fragte er mich gerade ernsthaft, ob alles in Ordnung war? »Rede bitte weiter«, bat ich ihn und er setzte seine Erzählung fort. Es war ihm sichtlich unangenehm. Nervös fummelte er an seiner Uhr und sagte dann: »Ich habe gestern Abend zu viel getrunken. Und anscheinend habe ich Julia.. angemacht. Also ich habe ihre Signale falsch verstanden und selbst, wenn sie mir welche gesendet hätte, hätte ich darauf niemals eingehen dürfen, das ist schon klar. Ich habe versucht, sie zu küssen. Und ich habe so Angst, dass ich jetzt meinen Job verliere, wenn sie darüber spricht. Sie hat nämlich abgeblockt.«

Erleichterung breitete sich in mir aus. Er hatte uns also doch nicht gesehen, weil er zu betrunken war. »Ich erinnere mich auch nicht mehr an alles«, gestand er, sah mich verlegen an und kratzte sich am Kopf. Ich legte meine Hand sanft auf seine. »Julia ist vernünftig. Wenn du willst, rede ich mal mit ihr. So von Frau zu Frau.« Erleichtert sah er mich an. »Das würdest du tun?« Ich nickte und grinste leicht. »Ja, natürlich. Mache dir keine Sorgen, ok? Ich kläre das.« Er presste die Lippen aufeinander. »Danke. Und es wäre schön, wenn das auch unter uns bleiben könnte. Ich weiß, dass es unverantwortlich war und es kommt auch ganz bestimmt nie wieder vor.« Ich nicke erneut. »Es bleibt unter uns. Versprochen.«

Wenn er wüsste, dachte ich etwas beschämt und aß mein Brot. Dass ich mich hinreißen lassen hatte und eine Beziehung mit ihr eingegangen war. Bevor wir abfuhren, hatten Julia und ich noch etwas Zeit für uns beide im Zimmer. Wir packten die letzten Dinge zusammen und dann ging es auch schon wieder nach Hause. Ich redete mit Julia darüber und sie meinte: »Ja, wenn er mich in Zukunft in Ruhe lässt, dann sage ich natürlich nichts. Das wäre auch irgendwie unfair.« Ich wusste, was sie meinte. Im Bus suchte ich wieder das Gespräch mit ihm und teilte ihm mit, was Julia gesagt hatte. Er bedankte sich noch einmal und dann schloss ich etwas die Augen. Die Tage hatte ich nicht allzu viel Schlaf bekommen. Als ich die Augen das nächste Mal öffnete, waren wir schon kurz vor der Schule.

Als wir ausstiegen, strömten alle mit ihrem Gepäck in unterschiedliche Richtungen davon. Nur Julia und ich blieben übrig. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte ich sie. Freudig nickte sie. »Sehr gern.« Unterwegs sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Immer wieder machte ich mir Gedanken darüber, dass man uns fast erwischt hatte. »Woran denkst du?«, fragte sie in die Stille hinein. Ertappt krallte ich meine Hände noch etwas fester um das kalte Lenkrad. »Weißt du, Julia. Man hätte uns fast erwischt. Und mir ist wieder bewusst geworden, dass wir einfach nicht vorsichtig genug sind. Ich hatte wirklich Angst, dass alles vorbei ist.« Mir liefen heiße Tränen die Wange hinab und ich musste anhalten.

»Es tut mir leid, dass es so kompliziert ist mit mir. Ich wünschte, es wäre anders. Aber Nele, es sind nur noch wenige Monate, dann bin ich nicht mehr deine Schülerin. Ich würde die Zeit auch so gern schon vorspulen, aber es geht nicht. Wir packen das, ok?« Woher nahm sie nur immer ihre Stärke? Ich bewunderte sie dafür. Sie streichelte liebevoll meine Hand und ich merkte, wofür sich das Kämpfen lohnte. »Ja, wir packen das.« Meine Stimme war heiser und ich beruhigte mich ganz langsam. Sie gab mir einen Kuss. Dann fuhr ich weiter. Ich hielt vor ihrem Haus, aber sie blieb noch sitzen und seufzte. »Ich werde dich heute Nacht vermissen. Ich wäre am liebsten immer bei dir.« Ich hatte das Verlangen, sie zu küssen, aber hier konnte uns jeder sehen. Das wollte ich nicht riskieren. »Wir sehen uns in der Schule.« Wir tauschten noch einen intensiven Blick aus, dann schnappte sie sich ihren Koffer und war verschwunden.

Ich fuhr nach Hause und fühlte mich merkwürdig leer. Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgekehrt. Ich vermisste Julia jetzt schon. Zu Hause räumte ich meinen Koffer aus. Dann vibrierte mein Handy kurz. Ich hatte eine E-Mail erhalten. Der Absender ließ mich kurz innehalten. Es war Frau Jühlich. Sie war Direktorin eines Gymnasiums, welches ungefähr 250 km entfernt war. Ich hatte mich vor einiger Zeit um eine Stelle dort beworben, da ich deren Konzept super fand. Gleichzeitig hatte ich mich auch an der Schule hier beworben. Dort waren sie aber jedoch gut besetzt und obwohl es meine erste Wahl gewesen war, machte mich die Zusage meiner jetzigen Schule auch sehr glücklich. Ich hatte hin und wieder an die Schule gedacht, aber mehr auch nicht. Gespannt öffnete ich die E-Mail.

»Sehr geehrte Frau Melling, vielleicht wundern Sie sich etwas über meine E-Mail, aber anders konnte ich sie leider nicht erreichen. Wenn Sie Zeit finden, rufen Sie mich doch bitte einmal an. Die Telefonnummer finden Sie in meiner Signatur. Vielen Dank. R. Jühlich«

Ich war verwundert. Was konnte sie von mir wollen? Sofort gab ich die Nummer ein und wartete. Nach dem vierten Klingeln nahm sie ab. »Jühlich?«, fragte sie und ich meldete mich mit: »Ja, hallo. Hier ist Nele Melling. Ich habe gerade Ihre E-Mail erhalten.« Ein erfreutes Lachen kam von ihrer Seite. »Ach, wie schön, dass Sie sich gleich melden. So schnell hatte ich nicht damit gerechnet. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?« Ich bejahte dies und dann redete sie weiter: »Sie hatten sich ja schon vor einiger Zeit als Lehrerin bei uns beworben, aber zu dem Zeitpunkt war keine Stelle frei. Nun ist es leider so, dass ich aus gesundheitlichen Gründen den Posten als Direktorin abgeben muss. Es geht nicht anders. Und meine Wahl fällt auf Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie diesen Job gut machen. Was sagen Sie?« Ich war völlig überfordert mit der Situation. »Was? Ich? Sind Sie sicher?« Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Ja, Ihre Bewerbung hat mich damals schon überzeugt und ich habe nur Gutes von Ihnen gehört.« Dass ich mit meiner Schülerin schlief, war ihr wohl nicht zu Ohren gekommen. Julia. Es traf mich wie ein Schlag auf den Kopf.

»Sind Sie noch dran?«, fragte sie etwas verunsichert nach. »Ja, tut mir leid. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Ich würde gern etwas darüber nachdenken.« Sie war plötzlich ganz still, aber seufzte dann. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Wir hätten bereits einen Ersatz, aber ich würde lieber Ihnen meine Schule überlassen. Ich kann Ihnen zwei Wochen geben.« Zwei Wochen? Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Ich sollte einfach absagen. Immerhin war Julia hier, aber auf der anderen Seite war das meine Traumschule und wer wusste, wie oft ich die Chance hatte, Direktorin zu werden. »Wann beginnt der Job?«, wollte ich noch wissen und sie antwortete: »Zum neuen Schuljahr. Aber die Einarbeitung wäre bereits im April.« Ab April? Das ging doch nicht. Julia stand da kurz vor ihrem Abitur. »Ich weiß nicht. Ich fühle mich wirklich sehr geehrt, dass Sie gerade mich fragen. Aber ich denke nicht, dass ich...«, sagte ich, aber sie unterbrach mich. »Überlegen Sie es sich. In 14 Tagen sprechen wir uns wieder.« Dann legte sie einfach auf und ich blieb mit meinen Gedanken alleine zurück. Was sollte ich jetzt nur tun?

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt