Kapitel 4

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Am nächsten Morgen fiel mir das Aufstehen schwer, was größtenteils an den Cocktails lag. Aber auch die Erinnerungen an gestern Abend nahmen mir die Luft zum Atmen. Ich wusste nicht, weshalb das so war. Warum dieses Mädchen nicht aus meinen Gedanken verschwand. Es war unerklärlich. Puh, dachte ich. Heute und morgen noch, dann war wieder Wochenende. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich mich Julia gegenüber verhalten sollte. Ein Blick in ihre Augen und ich war hin und weg. Und das durfte nicht sein. Ich quälte mich aus meinem Bett und schlüpfte unter die Dusche. Das heiße Wasser tat gut, obwohl es draußen schon warm war. Ich griff zu dem Nivea-Duschbad und seifte mich ein. Sanft ließ ich meine Hände über die Haut kreisen. Es schäumte. Ich spülte es wieder ab und bekam eine Gänsehaut, als ich kurz an Julia dachte. Schnell flüchtete ich aus der Dusche, packte mir mein Essen ein und fuhr los. 

Heute hatte ich keinen Unterricht in meiner Klasse. Auf der einen Seite freute ich mich, dass ich Julia nicht sehen musste. Sie sorgte immerhin schon für genug Chaos. Aber auf der anderen Seite wollte ich sie sehen. Ganz in Gedanken versunken, schmiss ich die Autotür zu. »Wenn Sie das Auto noch eine Weile fahren wollen, sollten Sie die Tür nicht so knallen«, sagte Julia und grinste mich an. »Danke für den Tipp«, entfuhr es mir etwas spitz. Sie hörte auf zu lächeln, drehte sich um und ging enttäuscht ins Gebäude. Super, genau das wollte ich verhindern. Ich begab mich ebenfalls ins Gebäude. »Nele, warte mal«, rief Luisa mir entgegen. Ich blieb stehen und wartete, bis sie bei mir war. »Es war schön gestern Abend. Das sollten wir bald auf jeden Fall wiederholen.« Ich musste lachen. »Das fand ich auch«, erwiderte ich. Wir schlenderten schweigend nebeneinander her und blieben vor dem Vertretungsplan stehen. Frau Nuss hatte sich krank gemeldet. Sie unterrichtete meine Klasse in Englisch. Geschockt stellte ich fest, dass ich diese Stunde übernehmen musste. Luisa machte sich darüber lustig. Klar, sie wusste auch nichts davon, wie sehr mich eine Schülerin durcheinander brachte. Schluss jetzt damit, ermahnte ich mich selbst. Ich ging in den Unterricht. Die Vertretung war erst im letzten Block. Bis zur siebten Stunde sah ich Julia also nicht. 

Als ich den Raum betrat, um den Unterricht zu starten, saß sie auf ihrem Platz. Sie sah mich nicht an, starrte nur auf ihren Notizblock. Ich hatte Arbeitsblätter verteilt, die ich am Ende der Stunde wieder einsammelte. Sie sollten einen kleinen englischen Aufsatz verfassen. Das Thema durften sie selbst wählen. Julia sah die ganze Stunde nicht ein einziges Mal auf. Selbst als Lars sie rief, reagierte sie nicht. Sie schien sich etwas unwohl zu fühlen. Lag es an ihm? Lag es an mir? Oder gab es ganz einfach einen anderen Grund? Fünf Minuten früher beendete ich den Unterricht. Alle stürmten hinaus in die Sonne. Ich blieb zurück und nahm mir die Aufsätze. Irgendwo in der Mitte fand ich Julias. Sie hatte genau einen Satz geschrieben. Mein Herz raste. Ich las. »I have an entire forest living inside of me and you have carved your initials into every tree.« Wen meinte sie? Es hatte mich nicht zu interessieren. Sie spielte absolut keine Rolle in meinem Leben. Trotzdem konnte ich nicht aufhören darüber nachzudenken. Energisch packte ich meine Sachen zusammen und verließ den Raum. 

In meiner Tasche suchte ich den Autoschlüssel und wieder krachte ich mit jemandem zusammen. Julia! »Oh, tut mir leid«, stotterte sie. »Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich besorgt. Sie schüttelte den Kopf. Sagte kein Wort. »Möchtest du reden? Zwei Straßen weiter befindet sich ein gemütliches Café.« Mit großen Augen starrte sie mich an. Wahrscheinlich dachte sie, ich wollte sie verarschen. Klar, vor einigen Tagen hatte ich sie abgewiesen und jetzt lud ich sie doch ein. Verdammt. »Alles in Ordnung. Komm, wir fahren hin.« Wortlos folgte sie mir bis zum Auto. Kurz zögerte sie, doch stieg dann schließlich ein. Wir suchten uns einen Fensterplatz aus. Sie bestellte sich einen frisch gepressten Orangensaft und ich einen Latte macchiato. Stille zwischen uns. Obwohl sie so traurig war, war sie unglaublich schön. 

»Was ist denn los? Warum bist du schon den ganzen Tag so bedrückt?« Sie nahm einen Schluck vom Saft. Dann schaute sie mir direkt in die Augen. »Es geht um ein Mädchen aus dem Internat.« Oh. Sie stockte. »Sie war meine Freundin. Meine feste Freundin.« Doppeltes oh. »Bist du deshalb umgezogen? Habt ihr euch getrennt?« Tränen füllten ihre Augen. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Das ist jetzt bald ein Jahr her. Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten ohne sie. Es war schrecklich.« Ich verstand es nicht. »Ohne sie?«, fragte ich vorsichtig. Nun liefen die Tränen ihre Wangen hinunter. »Ihre Eltern hatten einen schlimmen Autounfall mit ihr. Sie war sofort... tot.« Das letzte Wort endete mit einem großen Schluchzer. Ich nahm Julia in die Arme, streichelte ihr über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen. »Ich dachte, ich könnte mein Herz nie wieder öffnen für einen anderen Menschen.« Fragend guckte ich sie an. »Jetzt ist es aber irgendwie passiert. Es gibt jemanden - diese Person hat mein Herz sofort berührt. In so kurzer Zeit. Unfassbar, das ist doch unmöglich!« Entrüstet schüttelte sie wild den Kopf. Es fühlte sich an, als würde mein Herz sich zusammenziehen. Lars. Sie meinte Lars. 

»Aber das ist doch wunderbar, wenn du langsam damit abschließen kannst. Lass es zu. Es wird dir gut tun«, riet ich ihr, obwohl es mich innerlich zerriss. Empört sah sie mir in die Augen. »Sie verstehen absolut nichts, oder?« Geschockt saß ich auf meinem Stuhl. Sie kramte in ihrer Tasche, schmiss das Geld auf den Tisch und lief hinaus. Was hatte ich falsch gemacht? Ich wollte ihr folgen, doch sie war verschwunden. Dieses Mädchen stellte meine Welt auf den Kopf. Und das, obwohl ich sie gerade mal vier Tage kannte. Ich zahlte unsere Getränke und fuhr nach Hause. Immer wieder ging mir unser Gespräch durch den Kopf. Ich wurde daraus einfach nicht schlau. Egal, wie ich es betrachtete. Ich warf mich auf die Couch, schaltete den Fernseher ein und irgendwann schlief ich ein. Was waren das nur für verrückte Gefühle? 

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt