Kapitel 5

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Ich lief durch die grüne große Schultür. Julia stand mitten im Flur. Wir waren alleine, aber trotzdem fühlte ich mich beobachtet. Sie rief mir zu: »Komm endlich her!« Ein breites und verführerisches Lächeln zog sich über ihr Gesicht. Sie sah umwerfend aus. Ich stand wie angewurzelt am Boden. Wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte zu ihr gehen. Ignorierte, dass sie meine Schülerin war. Je näher ich ihr kam desto mehr entfernte sie sich. »Bleib stehen«, befahl ich ihr. Aber sie löste sich langsam auf.

Ich schreckte auf. Was für ein seltsamer Traum. Meine Uhr zeigte 03:24 Uhr an. Ich konnte also noch etwas schlafen und verließ die Couch. Ich tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Leise schlich ich ins Badezimmer, drehte den Hahn auf und spritzte mir das kühle Wasser ins Gesicht. Mir war total heiß. Nach einiger Zeit senkte sich meine Temperatur und ich legte mich ins Bett. Morgen würde ich noch einmal mit Julia reden. Ich wollte sie verstehen. Als ihre Lehrerin. Ich sah es als meine Pflicht. Ich schloss die Augen.

Nach einigen Stunden klingelte mein Wecker. Schnell stellte ich ihn aus. Ich konnte dieses Geräusch jetzt schon nicht mehr hören. Dabei waren die Ferien erst ein paar Tage vorbei. Ich nahm mein Handy in die Hand und öffnete Whatsapp. Ich tippte eine Nachricht an Luisa: »Guten Morgen, meine Liebe! Lust auf Inliner fahren heute Nachmittag? Wir sollten das Wetter genießen.« Mit einem Lächeln auf den Lippen wollte ich den Tag starten. Und tatsächlich - es klappte. Es war doch völliger Schwachsinn. Warum sollte ich mir den Kopf so über dieses Mädchen zerbrechen? Ich wollte einfach nur eine gute Pädagogin sein und ihr helfen, wenn es ihr schlecht ging. Mehr nicht. Mein Handy vibrierte. »Alles klar, ich freue mich :)«, schrieb Luisa. Auf dem Weg zur Schule drehte ich meine Musik laut auf. Es tat unglaublich gut. Abschalten. Tolles Gefühl. Dann fuhr ich auf den Parkplatz. Etwas verspätet kam ich in die sechste Klasse und gab dort zwei Deutschstunden. Es machte Spaß, mit den Kindern zu arbeiten. Sie fertigten einen Steckbrief an, den ich am Stundenende einsammelte, um ihn zu benoten. Sie waren noch weit entfernt von Textanalysen und Erörterungen. Die meisten Schüler fanden es furchtbar, aber ich mochte es. Schon immer.

Freitags ging der Unterricht immer nur sechs Stunden, worüber ich froh war. Als es zur Pause klingelte, stürmten die Kleinen auf den Pausenhof. Ich wischte die Tafel ab und hörte plötzlich ein Räuspern. »Frau Melling, ich wollte mich entschuldigen für gestern. Mein Verhalten war absolut falsch. Sie nehmen sich extra die Zeit für mich und ich benehme mich wie eine Vollidiotin.« Ich lächelte. »Ist schon in Ordnung, Julia.« Ernst sah sie mich an. »Nein, das ist es nicht. Sie können da nichts für. Überhaupt nichts. Ich bin momentan nur etwas verwirrt.« Sie presste ihre Lippen aufeinander und wartete auf eine Reaktion. Langsam ging ich um den Tisch herum. Direkt auf sie zu. Meine Hand legte ich auf ihre Schulter. »Alles gut. Werde dir in Ruhe über deine Gefühle bewusst. Ist doch völlig normal, dass dich das etwas aus der Bahn wirft. Du kannst jederzeit mit mir reden.« Erleichtert atmete sie aus. »Sie sind mir nicht mehr böse?« Ich schüttelte den Kopf. »Danke«, murmelte sie leise. Ich nahm meine Hand wieder weg. Komischerweise fühlte es sich gut an, sie zu berühren. Sie strahlte Ruhe aus. Und genau das mochte ich. Obwohl sie auch ziemlich selbstbewusst war. »Wir sehen uns später.« Verdutzt schaute sie mich an. »Wir haben heute noch Sport«, erklärte ich ihr lachend. Julia errötete leicht. »Äh, klar. Bis später dann.« Dann war sie verschwunden.

Ich nahm meine Tasche und schlenderte ins Lehrerzimmer. Auf dem Weg traf ich auf Lars. Er stand dort. Hand in Hand mit einem Mädchen aus einer unteren Klasse. Und küsste sie auf den Mund! Ich schlich mich vorbei. Kein Wunder, dass Julia so durch den Wind war. Irgendwie machte mich das sauer. Erst küsste er Julia und dann ein anderes Mädchen? Sie war wahrscheinlich gerade dabei, Gefühle für ihn zu entwickeln. Jetzt verstand ich sie viel besser. Als wir später auf dem Sportplatz waren, fragte ich sie: »Hast du nach der Stunde noch fünf Minuten Zeit?« Sie nickte. Wir machten Dehnübungen zum Aufwärmen und ich musste mich konzentrieren, nicht andauernd Julia anzustarren. Wie sie sich bewegte, machte mich wahnsinnig. So hatte ich noch nie über eine Frau gedacht. Eigentlich betrachtete ich eher Männer. Das wunderte mich. Sehr stark sogar. Aber wenn ich ehrlich war, gefiel es mir. Für den Rest der Stunde stellte ich meine Gedanken ab. Wir spielten noch einige Partien Volleyball, bis die Stunde dann fast vorbei war und alle sich umziehen gingen. Ich wartete ungeduldig, bis alle Schüler weg waren. Zuletzt kam Julia aus der Kabine. 

»Worüber wollen Sie reden?«, fragte sie neugierig und trat einen Schritt näher. Ich ignorierte es und wollte einen sicheren Abstand zwischen uns halten. »Ich weiß gar nicht so wirklich, wie ich anfangen soll. Du hast mir doch gestern erzählt, dass du dein Herz wieder geöffnet hast. Und ich habe dich und Lars gesehen in der Bar. Wie ihr euch geküsst habt...«, fing ich an, doch dann unterbrach sie mich schnell. »Was? Lars hat mich geküsst. Ich habe ihn weggestoßen. Ich wollte das gar nicht. Er hat außerdem eine Freundin und ist nicht mein Typ.« Sie konnte meinen entsetzten Blick erkennen. »Denken Sie ernsthaft, Lars hätte mein Herz berührt? Nein, das wäre zu einfach.« Sie sah mir tief in die Augen. Trat noch einen Schritt näher. Reflexartig ging ich einen Schritt zurück. Dann drehte sie sich um und lief los. Ich konnte in ihrem Blick Enttäuschung sehen. Aber wieso? Wer hatte ihr dann den Kopf verdreht, wenn es nicht Lars war? Und was meinte sie damit, dass es zu einfach wäre? Hatte ich mir heute Morgen nicht noch vorgenommen, dass ich nicht über sie nachdenken wollte? Und jetzt tat ich es schon wieder. Ich lief eine Runde um den Platz, um den Kopf wieder etwas freier zu bekommen. Dann fuhr ich nach Hause und zog mich um. Luisa wollte mich in einer halben Stunde abholen. Ich schnappte meine Inliner und kurze Zeit später kam meine beste Freundin auch schon. Wir fuhren direkt am Hafen entlang. Es war einer wunderbare Strecke. Erschöpft setzten wir uns auf die Terrasse eines Eiscafés und bestellten beide einen großen Eisbecher. Wir redeten über alles. Nur über Julia verlor ich kein Wort.

Sturzflug ins Herz || txsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt