1. Kapitel - Panische Angst

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Ich beobachtete, wie die Angst in den braunen Augen meiner Mutter immer größer wurde. Sie ließ ihre sonst so kleinen Augen riesig erscheinen und gab ihnen einen merkwürdigen Schimmer, der den Anschein erweckte, ihr Geist sei für einen Augenblick aus ihrem Körper gewichen.

„Mom, es ist rot!", schrie ich, während wir mit 70 Km/h auf eine große Kreuzung zurasten. Die Hauptstraße kam näher. Das rote Licht der Ampeln blendete mich. Im Augenwinkel sah ich die anderen Autos, die das Tempo längst gedrosselt hatten. Wir überholten sie mit unveränderter Geschwindigkeit. Meine Mom regte sich keinen Millimeter. Mir wurde flau im Magen.

„Mom!", rief ich erneut und stieß meine Hand energisch gegen ihrer Schulter. Endlich kam sie zu sich. Sie kniff die Augen zusammen, um sie wenige Sekunden später wieder zu öffnen. Der seltsame Schimmer war verschwunden. Dann trat sie heftig auf die Bremse und brachte die Reifen zum Quietschen. Das Auto kam zum Stehen und ich wurde fest in den Gurt gepresst. Ich atmete auf. Einen Moment lang war es still und nur der Lärm der Großstadt drang dumpf durch die verschlossenen Fensterscheiben. Ich erwachte aus meiner Schockstarre und blaffte, sie habe uns beinahe umgebracht. Doch meine Worte schienen unbemerkt an ihr vorbei zu fliegen. Und dann sah es so aus, als würde sie gleich wieder in ihre Gedankenwelt abtauchen. Kopfschüttelnd drehte ich mich der verregneten Fensterscheibe zu und seufzte. Den ganzen Morgen war sie schon völlig durch den Wind gewesen und hatte sich umgesehen, als würde uns jemand verfolgen. Ich hatte das schon oft bei ihr erlebt, doch heute war es noch schlimmer, als sonst.

„Du hast ihn auch gesehen oder?", flüsterte sie, immer noch nicht ganz bei Sinnen. Fassungslos fuhr sie sich durch die kurzen, blonden Haare.

„Ja hab ich. Aber es ist nur Dave. Kein Grund gleich so auszuticken", entgegnete ich Augen rollend und hörte nicht auf, aus dem Fenster zu starren, weil ich ganz genau wusste, was als Nächstes kommen würde.

„Wir haben erst gestern über ihn gesprochen! Wir haben Ewigkeiten nicht über ihn gesprochen! Das ist kein Zufall mehr!", antwortete sie aufgebracht. Im Augenwinkel sah ich nur, wie sie ihren Kopf in meine Richtung drehte und wohl möglich hoffte, ich würde sie anschauen und gleichermaßen entsetzt reagieren. Doch diesen Gefallen tat ich ihr nicht. Es war nur ein Zufall! Ein langweiliger, nichts bedeutender Zufall. So wie immer. Ich kannte niemanden, der genauso aus der Haut fuhr, wenn sich Zufälle häuften, wie meine Mutter es tat. Sie hatte buchstäblich Panik vor diesen Zufällen und immer wenn sich einer ereignete, sah sie mich danach besorgt an. Nicht nur besorgt, manchmal hatte sie den gleichen, seltsamen Schimmer in ihren Augen, der mich glauben ließ, sie würde sich deswegen vor mir fürchten. Als wäre ich für diese bedeutungslosen Zufälle verantwortlich.

Dave war nur ein alter Kumpel, mit dem ich einige Jahre zusammen zur Schule gegangen war. Wir hatten zuletzt vor drei Jahren Kontakt gehabt, weil er dann mit seiner Familie nach Kalifornien gezogen war. Er war schnell in Vergessenheit geraten und so hatte ich schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Mit meiner Mom hatte ich allerdings gestern erst über ihn gesprochen und das zum ersten Mal, seit bestimmt zwei Jahren. Klar, da war es schon etwas merkwürdig, dass er ausgerechnet heute in New York auftauchte und an der gleichen Straße entlang lief, an der wir vorbeigefahren waren. Aber was sollte daran besorgniserregend sein? Immerhin war es einfach nur ein Zufall.

In letzter Zeit häuften sich die Zufälle wieder auffällig oft. Meine Mom war in diesen Zeiten sehr unruhig und aufgebracht. Immer wieder erwischte ich sie dabei, wie sie mit meinem Dad geheime Besprechungen machte und wie sie mir diesen eigenartigen Blick zu warf. Meinen Bruder sah sie sich an diesen Tagen genauso besorgniserregend genau an. Oft starrte sie ihm viel zu lange in die Augen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sie sah uns an, als würde sie darauf warten, dass wir durchdrehten. Doch die Einzige, die das tat, war sie selbst. Obwohl meine Mom von den Zufällen wie besessen zu sein schien, ignorierte sie die merkwürdigen Geburtsdaten meines Bruders und mir. Mein Bruder war am 01.01.2001 geboren und ich zwei Jahre früher, am 09.09.1999. Wenn sie sich über diese Daten Gedanken machen würde, könnte ich es vielleicht sogar verstehen. Doch aber nicht über irgendwelche Zufälle, die jedem passierten.

„Sam, du musst heute besonders aufpassen, okay? Wenn dir etwas komisch vorkommt, dann ruf mich sofort an, ja?", sagte sie ernst und starrte mir durchdringend in die Augen. Ich seufzte. Diese Art von Satz sagte sie mir mittlerweile fast jeden Morgen, sodass ich meine Mom schon gar nicht mehr ernst nehmen konnte. Als würde mir jemand etwas antun wollen. Lächerlich.

„Lass gut sein, ich bin so früh am Morgen echt nicht in Stimmung, um deine esoterischen Fantasien zu ertragen", murmelte ich und versank für einen Augenblick in Erinnerungen an meine Grandma. Seit sie vor einem Jahr gestorben war, verunsicherten die Zufälle meine Mom mehr und mehr.

„Hast du mir zugehört?" Kopfschüttelnd drehte ich mich wieder zu ihr um.

„Sam, nimm das nicht auf die leichte Schulter! Diese Welt ist gefährlich." Wieder seufzte ich. Ja ja,

schon klar. Das ganze Leben ist gefährlich. Aber es machte keinen Sinn mit ihr zu diskutieren, also nickte ich nur abwesend und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Großstadt, die schnell an uns vorbeizog. Gedankenversunken lauschte ich der leisen Radiomusik und versuchte diesem tristen Montagmorgen etwas abzugewinnen.

Das Auto meiner Mutter hielt auf dem Gelände der Schule. Draußen regnete es in Strömen. Meine lockigen Haaren kräuselten sich und der stürmische Wind fing an sie zu zerzausen. Ich hing mir die Tasche gerade über die Schulter und wollte aussteigen, als meine Mom fest nach meinem Arm griff und mir bedrohend aufdringlich in die Augen starrte.

„Sam, egal was heute passiert. Ich liebe dich. Und dein Vater liebt dich auch", sagte sie ernst und formte ihre Lippen zu einem mitleidigen Lächeln.

„Okay, ich liebe euch auch."

„Was soll schon passieren", sagte ich schließlich zögernd in die Stille hinein, als Mom den Griff um meinen Arm immer noch nicht gelockert hatte.

„Ich liebe dich", wiederholte sie und drückte mich auf einmal überschwänglich an sich.

„Ist ja gut, ich dich auch, aber ich muss jetzt wirklich los", drängte ich verwirrt und konnte mich schließlich aus ihrem Arm befreien. Schnell schlug ich die Autotür hinter mir zu und machte mich auf den Weg ins Schulgebäude, ohne meiner Mom einen weiteren Blick zuzuwerfen. Was zur Hölle war nur los mit ihr? Klang beinahe so, als würde sie glauben wir würden uns nie wieder sehen.

Hallo, freut mich, dass du auf meine Geschichte gestoßen bist. Ich würde mich über ein Feedback freuen. :)


Zufall oder Magie? (1. Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt