Kapitel 1: Der Pfefferminz-Aschenbecher

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Schon seit ein paar Tagen, hatte die Schule wieder angefangen. Die Sommerferien waren erholsam und ließen mich sogar fast vergessen, was es hieß in Hawkins zu wohnen, doch sollten die nächsten Tage mich wieder daran erinnern. Kaum hatte die Schule wieder angefangen, schon redeten die Leute wieder über ihr Lieblingsthema. Mich. Ich habe mich schon immer gewundert, wie man so lange über ein und dasselbe Thema reden konnte, während das daraus resultierende Ergebnis gleichblieb. Normalerweise lief es folgendermaßen ab:
„Das ist Dorothy Lockwood und sie gehört zu den Lockwood Schwestern."
„Ach, sie ist die siebte Schwester?"
„Naja, um genau zu sein, ist sie das mittlere Kind. Unter den sieben Schwestern, ist sie die Einzige, die keinen Zwilling hat."
„Echt? Na, das nenn' ich Pech!"
„Es gibt die Theorie, dass ihr Zwilling verstorben ist und die Familie es vertuscht hat."
„Was?! Das glaube ich nicht!"
„Ich ja auch nicht, es ist immerhin nur eine Theorie!"
„Aber ich muss zugeben, sie hat etwas Unheimliches an sich."
„Da kann ich dir nur zustimmen. Wusstest du, dass sie blind ist?"
„Aber sie bewegt sich überhaupt nicht wie jemand, der blind ist."
„Genau das ist es doch, was alle so unheimlich finden."
„Wie ist das nur möglich?"
„Das wüsste ich auch gerne. Neulich hat Stacey versucht ihr ein Bein zu stellen und sie ist einfach drübergestiegen, als ob sie es gesehen hätte!"
„Wow, das hört sich fast so an, als hätte sie Superkräfte."
„Vor allem, nach dem, was letztes Jahr mit diesem Byers-Jungen geschah."
„War sie etwa darin verwickelt?"
„So ungefähr. Sie ist wohl gut mit den Involvierten befreundet."
„Glaubst du, das ist alles Zufall?"
„Ganz bestimmt nicht! Sie wird nicht ohne Grund Psychic Witch genannt."
Immer und immer wieder das gleiche Gespräch und immer wieder kamen sie auf dasselbe Ergebnis: ich war „Psychic Witch".
Doch der heutige Tag war anders. Wieder hörte ich den Leuten zu, wie sie über mich sprachen, doch diesmal... waren es Jungs? Normalerweise sind es Mädchen, die über mich tuschelten oder Gerüchte und Theorien verbreiteten. Allerdings handelte es sich diesmal weder um die üblichen Lästereien noch um irgendwelche Gerüchte. Als ich genauer hinhörte, konnte ich erkennen, dass es sich bei der einen Stimme um Tommy Hagen, ein Arschloch wie kein anderes, handeln musste. Die zweite Stimme kannte ich noch nicht, er musste der Neue Schüler sein, von dem ich bereits gehört hatte. Jedoch konnte ich schon raushören, dass er nicht zu der Sorte Mensch gehört, mit der ich gerne meine Zeit verbringen wollte.
Um besser verstehen zu können, was sie sagten, atmete ich ruhiger, senkte meinen Puls und begann, andere Geräusche um mich herum auszublenden. Je öfter ich das tat, umso schneller und besser wurde ich darin. Übung macht den Meister.
„Psychic Witch, huh?", sagte der Unbekannte belustigt. „Warum heißt sie so? Ist sie durchgeknallt?"
Dann lachte Tommy. „Scheiße, du hast echt keine Ahnung, oder? Die ist'n totaler Freak, ich sag's dir!"
Der Unbekannte machte eine Pause und kaute, übertrieben laut, sein Kaugummi, wodurch er schmatze. Ew. Ich hasste dieses Geräusch. Er lachte auf.
„Sie ist ziemlich heiß.", sagte er schließlich. Unwillkürlich begann mein Herz schneller zu schlagen und ich schluckte. Was brüteten sie aus? Ich musste meinen Herzschlag wieder beruhigen, um ihrer Unterhaltung weiterhin folgen zu können.
„Wow! Niemand kommt an unsere Psychic Witch ran!", meinte Tommy scherzhaft. Dann machte er eine Pause. Plötzlich spürte ich ein Ziehen im Nacken und wusste, dass er mich beobachtete, also versuchte ich, so normal wie möglich zu wirken.
„Wieso kommt niemand an sie ran?", fragte der Unbekannte neugierig. „Ist sie so einschüchternd oder hatte noch niemand die Eier, es zu versuchen?"
Wieder lachte Tommy. Wie ich seine Lache hasste.
„Sie ist noch Jungfrau.", sagte er schließlich geheimnistuerisch.
„Und?"
„Scheiße, da scheint aber jemand motiviert zu sein!", stellte Tommy fest und klopfte dem Unbekannten auf die Schulter. „Zwanzig Dollar, dass du es nicht schaffst, sie zu entjungfern."
Der Unbekannte lachte. „Ich wette dagegen."
Sie gaben sich klatschend die Hände und lachten dreckig.
An diesem Punkt begann mein Herz so schnell zu schlagen, dass ich die Konzentration nicht mehr aufrechterhalten konnte. Ich atmete tief durch. Jetzt war ich nicht nur eine Hexe, sondern auch noch eine Wette.
„Gut gemacht, Dorothy Lockwood, du hast es in deinem Leben, wirklich weit gebracht!", dachte ich frustriert.
Ich spürte, wie sich schwere und dennoch schnelle Schritte näherten und neben meinem offenen Spint Halt machten. Wenn ich sehen könnte, würde ich meinen Spint schließen und ihn plötzlich vor mir stehen sehen. Jedoch bedarf es nicht mal einer Sehkraft oder seiner Schritte, um zu merken, dass er neben mir stand. Sein Parfum roch würzig und extrem stechend, wenn man zu viel davon auf einmal einatmete, was bei der Menge, die er trug, wohl Gang und Gebe war. Es hatte einen sehr maskulinen Touch, jedoch nicht ohne eine Note von Klasse und Stil.
Noch zögerte ich einen Augenblick, doch es hatte keinen Zweck. Ich schloss den Spint und „sah" ihn an. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, jedoch konnte ich ein leises, belustigtes Schnauben vernehmen.
„Hi.", begann er. Wie originell. „Ich bin Billy."
„Hi Billy.", antwortete ich knapp und versuchte dabei möglichst desinteressiert zu wirken, obwohl ich nicht abstreiten konnte, neugierig auf das zu gewesen zu sein, was folgen würde. Doch plötzlich war es, als ob mir jemand, mit einem Brett, eins übergebraten hätte und ich war gezwungen, die Luft anzuhalten.
Das Parfum war die eine Sache, aber sein Mundgeruch eine andere. Noch immer kaute er auf seinem Kaugummi herum, das schmatzende Geräusche von sich gab. Zu dem Pfefferminzkaugummi- und dem Parfum-Geruch gesellte sich allerdings noch ein Dritter. Billy schien wohl zu rauchen und der Gestank von abgestandenen Zigaretten traf meine Nase so unvorbereitet, dass mir schlecht wurde. Nichts hasste ich mehr als den Gestank von Zigaretten und Alkohol, aber immerhin blieb mir letzteres erspart, ansonsten hätte ich mir noch Gedanken machen müssen.
Nun stand er da, in voller Pracht: ein Pfefferminzkaugummi schmatzender, maskulin-würzig-stechender Aschenbecher... aber mit Stil!
Angenehm.
Dann schnaubte er erneut belustigt und neigte seinen Kopf leicht zu seiner linken Seite, was mir nicht entgehen konnte, da seine Nackenwirbel leicht knackten.
„Also...", sagte er und machte eine kurze Pause. „Wieso trägst du eine Sonnenbrille? Ist es so hell hier drin? Oder traust du dich nicht, mir in die Augen zu sehen?"
Ich seufzte. Konnte er sich nicht ein wenig mehr Mühe geben? Seine gesamte Anwesenheit war mir unangenehm und dass ich die vorherige Konversation mitangehört hatte, machte es kein Stück besser. Ich räusperte mich und merkte, wie mir die Wärme in die Wangen stieg. Das war's. Ich hatte einen Kloß im Hals. Wie ging man nur mit solch einer Situation um?
Meine Wortkargheit schien Billy nicht zu stören, sondern sogar zu amüsieren, denn er begann zu lachen.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?", fragte er selbstzufrieden und senkte seine Stimme, damit diese tiefer klang. „Weißt du... Wir müssen nicht unbedingt reden, um uns näher kennenzulernen, wenn du verstehst?"
„Ach ja? Ist das so?", platzte es abfällig aus mir heraus und als ich realisierte, was ich gesagt hatte, hielt ich mir schnell die Hand vor den Mund. Unwillkürlich atmete ich schon wieder einen Schwall seines Parfums ein und musste mich kurz räuspern.
Dann hörte ich, wie er seinen rechten Arm etwas höher am Spint anlehnte und mir mit seinem Gesicht näherkam. Der Geruch des Pfefferminz-Aschenbechers wurde stärker und ich hielt die Luft an. Für einen ganzen Moment konnte ich mich nicht auf das sogenannte Gespräch konzentrieren, da ich damit beschäftigt war, einen Würgereiz zu unterdrücken und ohne Luft nicht ohnmächtig zu werden. Ich war schon immer sehr geruchsempfindlich, doch seitdem ich blind war, ist es schlimmer geworden. Klar, die schönen Gerüche wurden intensiver, doch galt dies auch für die... nun ja... nicht so schönen. Billys Worte klangen nur dumpf und weit entfernt. Doch da auch ich Sauerstoff zum Atmen brauchte, dauerte es nicht lang, bis mein Kopf pochte und mein Gehirn nach eben diesem verlangte. Schnell wich ich einen Schritt zurück und holte tief Luft.
Billy brach verwirrt seinen recht unangemessenen Monolog ab und sagte einen Moment lang nichts.
„Alles okay?", fragte er schließlich.
Erneut räusperte ich mich und stellte mich wieder gerade hin. Dann sammelte ich all meinen Mut und sagte endlich das, was ich schon die ganze Zeit sagen wollte.
„Tut mir wirklich leid, Billy, aber ich habe keine Zeit, dir dabei zuzuhören, wie du mir sogenannte süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterst, während du wie ein Pfefferminz-Aschenbecher riechst!", prasselte es nur so aus mir heraus und ich schluckte, doch fuhr ich fort, damit er meine Unsicherheit nicht sofort bemerken würde. „Es wäre wirklich nett, wenn du dir für deine Wette, eine andere Jungfrau suchst und mich bitte in Ruhe lässt!"
Billy blieb still und schien nach Worten zu suchen, doch zu meiner Überraschung, konnte er sie nicht finden. Ich war mir nicht sicher, ob er überrascht, verwirrt oder unsicher war, da ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, jedoch bezweifelte ich Letzteres. Die Stille nutzte ich aus, warf mir schnell meinen Rucksack über die Schulter und wollte mich aus dem Staub machen.
Doch dann hielt ich für einen Moment inne und aus keinem erfindlichen Grund, hatte ich das Bedürfnis, mich überdramatisch vorzustellen.
„Ach übrigens."
Ich drehte mich noch einmal auf meinem Absatz um und zog die Sonnenbrille ab, sodass meine milchigen Augen klar und deutlich zu sehen waren. Dann schenkte ich ihm mein schönstes, passiv aggressives Lächeln, das ich parat hatte.
„Hi, ich bin Dottie."

Ich bin Dottie || Billy & Eddie Stranger Things FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt