Kapitel 26: Stimmen

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Wer ist Dottie Lockwood?
Ein Gedanke, der mit der Zeit in meinem Kopf derart automatisiert war, dass ich hätte meinen können, er wäre von Anfang an da gewesen.
„Du hast uns schon einmal verzaubert, also schaffst du das auch ein zweites Mal!"
Was sollte das überhaupt bedeuten? Einen Scheiß schaff ich! Sie haben mich vergessen. Alle haben mich vergessen! Was würde es mir bringen, sie nochmal zu „verzaubern", wenn all ihre Erinnerungen an mich verschwunden sind?
Gerade durch unsere Abenteuer waren wir so sehr zusammengewachsen. Klar, wir waren auch davor Freunde, doch Elfie, das Upside-Down, unsere Verluste, unsere Wunden... Das alles hatte uns so viel näher zusammengebracht. Und Elfie... Ich konnte sie nicht mal mehr spüren.
Immerhin wusste ich, dass Billy mich in seinen letzten Momenten nicht vergessen hatte. Immerhin blieb mir dieser Schmerz erspart.
Alles in mir zog sich zusammen. Mein Herz schmerzte tatsächlich.
Wie soll ich das nur überleben, fragte ich mich immer wieder. Ich wünschte, ich könnte auch einfach vergessen.
Vergessen.
Es gab nichts, was ich mir mehr wünschte. Einfach zu vergessen. Nicht mehr zurückzublicken. Einfach fortgehen. Sie leben lassen und nie wiederkehren.
Aber wie?
Immer und immer wieder schlug ich auf das Autowrack ein. Immer und immer wieder prallte mein Baseballschläger an ihm ab. Alles in mir wollte dieses Wrack bis auf das letzte Bisschen zerstören.
„Dot?"
Ein markerschütternder Schrei entfuhr mir so schrill und so verzweifelt, dass ich für einen Moment vergaß, dass ich diejenige war, die schrie. Ich schrie so laut ich konnte, bis mich letztendlich die Hoffnungslosigkeit zu Boden sinken ließ.
Wer war ich? Wer bin ich?
„Dot!"

Vor Schreck ließ ich beinahe meine Zigarette aus der Hand fallen und begann zu husten. Noch immer verwirrt, sah ich mich um und entdeckte Eddie, der mit beiden Händen in den Jackentaschen auf mich zukam. Seine dunkelbraunen Augen wirkten beinahe schwarz im spärlich beleuchteten Backstagebereich. Er schnaubte belustigt, als er bemerkte, dass er mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte.
„Na, Dot?", sagte er neckend. „Wieder am Träumen?"
Dot? Es gab nicht viele, die mich so nannten. „Und du? Wieder am Verstecken?"
„Autsch.", sagte Eddie und verzog das Gesicht. „Nicht fair." Dann grinste er wieder und zog seinen tiefsitzenden Pferdeschwanz etwas fester. Schmale lockige Strähnen hingen an den Seiten heraus und gaben seinem Gesicht einen perfekten, dezenten Rahmen.
Als er direkt vor mir zum Stehen kam, sah er mir in die Augen und sein zuvor schelmischer Blick wandelte sich in Besorgnis. Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt und nahm einen letzten Zug an meiner Zigarette, bevor ich sie in einem kleinen Aschenbecher, der neben mir auf einer Mauer stand, an die ich mich anlehnte, ausdrückte.
„Aber mal im Ernst.", begann Eddie schließlich. „Bist du okay?"
Ich schnaubte belustigt. „Okay?" Ich machte eine kurze Pause und lächelte kurz. „Klar, ich bin immer okay. Ich habe gerade mit meinen Schwestern ein Wahnsinns Halloween-Konzert gegeben, also warum sollte ich es nicht sein?"
„Aus demselben Grund, warum du wie weggetreten in die Luft gestarrt hast.", beantwortete er meine (mehr oder weniger) rhetorische Frage. „Und aus demselben Grund, weshalb du in den Sommerferien, mitten in der Nacht, auf dem Schrottplatz warst."
Mein Herz rutschte mir in die Hose. Hatte ich mich verhört? Plötzlich schien es, als hätte jemand die Sauerstoffzufuhr abgedreht. Ich schluckte und stellte fest, dass ich einen Kloß im Hals hatte und meine Handflächen zu schwitzen begannen. Hatte er mich gesehen? Woher wusste er davon?
„Was meinst du?", brachte ich gerade so hervor.
Eddie seufzte und sah mich einfühlsam an. „Ich wollte es dir erst nicht sagen, aber..." Für einen Moment mied er meinen Blick und suchte nach den richtigen Worten. „Eines Abends im August, da... Da beschloss ich, zum Schrottplatz zu fahren. Je näher ich kam, umso heftiger wurde der Regen. Als ich dort war, habe ich so ein seltsames Geräusch gehört... und als ich dem nachgegangen bin... warst du da." Eddie sah mich wieder an und ließ mich wissen, dass es keinen Zweck hatte, es zu bestreiten. „Natürlich wusste ich noch nicht, wer du warst, schließlich hatte ich dich zuvor nie gesehen, doch als du dann auf unsere Schule kamst, da erkannte ich dich wieder."
Da war es wieder. Schließlich hatte ich dich zuvor nie gesehen. Doch ich kannte Eddie. Und Eddie kannte mich.
Er seufzte und legte sanft seine rechte Hand auf meine linke Schulter. „Ich weiß nicht, was dir passiert ist oder ob du es einfach nur hasst, in Hawkins zu leben, aber... du bist nicht allein. Klar soweit?"
Bevor ich es zu verhindern wusste, brach ich in Tränen aus und Eddies Arme drückten mich behutsam an ihn.
Wie sehr ich es ihm erzählen wollte. Alles erzählen wollte. Doch ich wusste, das konnte ich nicht. Niemals.

Wieder rannte ich, mit rasendem Herzen, durch die Abgründe des Upside-Downs. Es war das erste Mal seit den Sommerferien, dass ich einen Albtraum hatte. In der Ferne konnte ich zwei Personen ausmachen. Eine Person hielt die andere im Arm, die am Boden lag.
Diesmal würde ich es schaffen. Diesmal würde ich rechtzeitig bei ihnen sein, um ihnen zu helfen. Mit jedem Schritt wurde ich schneller und entschlossener. Entschlossen, endlich herauszufinden, wem ich helfen musste.
Der schwarze Nebel aus Schreien und Verzweiflung war jedoch ein Verfolger, der niemals aufgeben und niemals erschöpfen würde. Gnadenlos. Genau wie die Zeit.
Ich blinzelte. Als ich meine Augen wieder öffnete, herrschte absolute Stille. Dunkelheit. Sie hatte mich eingeholt. Ich befand mich noch im Upside-Down, doch konnte ich gerade so die Hand vor Augen sehen. Schwer atmend blieb ich stehen und sah mich um.
Was geschieht hier? Warum ist es plötzlich so anders als die anderen Male?
Da mir diese Situation neu war und ich kaum sehen konnte, beschloss ich, in die Dunkelheit hineinzurufen.
„HEY! WAS IST DAS FÜR EIN SPIEL?!"
Es geschah nichts. Was hätte auch passieren sollen?
Dann muss ich mich wohl auf meinen Instinkt verlassen.
Ich schloss meine Augen und bahnte mich durch die endlose Dunkelheit. Ich wusste nicht, wohin ich ging, doch ich wusste, dass mein Verstand mich nicht im Stich lassen würde. Nur diesmal würde ich keine schwebende Kugel aus purer Energie anfassen, so viel stand fest.
Mit jedem Schritt wurde ich schneller, bis ich schließlich joggte. Nichts.
Frustriert öffnete ich wieder meine Augen und als hätte die Dunkelheit nur darauf gewartet, begannen die Stimmen wieder durcheinander zu reden. Doch diesmal waren es keine Schreie. Es war, als würden die Stimmen auf mich einreden.
„Du bist der schlechteste Cheerleader, den ich je im Team hatte. Aber was tut man nichts alles für seine Freunde?" Chrissy?
„Ganz ehrlich: du hättest damals ins Upside-Down verschleppt werden sollen." Alex.
„Und du behauptest, uns beschützt zu haben? Deinetwegen waren wir alle in Gefahr!" Dustin.
„Nur weil du versagt hast, mussten wir nach Kalifornien ziehen!" Will.
Nein.
„Wegen dir, sind Mike und ich meilenweit voneinander entfernt!" Elfie.
Es ist nicht meine Schuld!
„Mein Bruder ist nur gestorben, weil du zu schwach warst, ihn zu retten." Max.
Ich wollte das nicht! Ich würde alles für eine zweite Chance tun!
„Du hast mich sterben lassen." Billy? „Du hättest mich retten können. Du hattest die Kraft dazu."
„NEIN!", schrie ich plötzlich. „Ich habe..." Schluchzend rang ich nach Luft. „Ich habe meine gesamte Kraft dafür verschwendet gegen Evelyn zu kämpfen, obwohl..." Ich versuchte, mich zusammenzureißen. „Obwohl ich wusste, dass ich verlieren würde... doch ich wollte einfach nicht einsehen, dass sie so viel stärker ist als ich."
„Nutzlos."
Nein, das bin ich nicht!
„Schwach."
Das stimmt nicht!
„Egoistisch."
Hört auf!
„Arrogant."
Stopp!
„Tot."
Was?
Die Stimmen verstummten erneut und ich konnte nur noch meinen eigenen, schweren Atem ausmachen. Gerade, als ich einen Schritt nach vorn machen wollte, ertönte ein ohrenbetäubendes, nichtmenschliches Kreischen und ein Schwarm riesiger, scheinbar mutierter, Fledermäuse flog mir entgegen. Schnell schützte ich mein Gesicht mit meinen Armen und sank auf dem Boden zusammen. In Embryohaltung lag ich auf dem Boden und wartete, bis es vorbei war, bis plötzlich eine Stimme sanft zu mir sprach.
„Dot?", sagte Eddie. Eine Hand berührte mich sanft an der Schulter. „Hey, Dot."
Langsam öffnete ich meine Augen. Eddie lächelte mich warm an.
„Mach dir nichts aus den Stimmen der anderen." Sein Lächeln wurde immer weiter, sein Blick immer eindringlicher. „Ich bin froh, gestorben zu sein."
Was?
„Aber Eddie, du lebst!"
„Ach? Tu ich das?" Mit einem Mal spuckte er Unmengen an Blut, während er lachte und mich fixierte. „Ich soll dich lieb von Billy grüßen." Eddies blutüberströmtes Gesicht kam meinem unangenehm nahe, sodass sich der Geruch von Eisen durch meine Nase bohrte. „Er wartet schon sehnsüchtig auf dich." Eddie griff meine Kehle und drückte sie mit aller Kraft. „In der Hölle, in die du gehörst!"
Wieder lachte er manisch, wodurch sich das Blut aus seinem Mund in meinem Gesicht verteilte. Meine Kehle schmerzte und es fühlte sich an, als würde ich ersticken. Doch in jenem Moment war mir das Gefühl nicht fremd. Also schloss ich nur meine Augen und hoffte, dass dieser Albtraum bald sein Ende finden würde. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 19, 2023 ⏰

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Ich bin Dottie || Billy & Eddie Stranger Things FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt