Kapitel 6: Wie Damals

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Mit rasendem Herzen ließ ich das Plektrum über die Saiten meiner E-Gitarre fliegen. Ich war mir nicht sicher, ob es diese Melodie schon gab oder ob ich sie mir gerade ausgedacht hatte. Doch ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass es meine Emotionen waren, die für mich spielten. Und ich war mir ebenfalls zu hundert Prozent sicher, dass Francesca gerade wütend gegen die Wände oder die Tür schlug. Jedoch konnte ich nicht von mir behaupten, dass es mich interessierte und solange ich es nicht hörte (oder sie wie eine Durchgeknallte in mein Zimmer stürmte) blieb das auch so.
Verwirrung. Angst. Zweifel. Vertrauen. Freude?
All diese Gefühle schossen durch meinen Körper, setzten ihn unter Strom und erzeugten somit genügend Energie, um das stärkste Solo hinzulegen, das ich je gespielt hatte.
„Komm, ich fahr dich nach Hause.", hatte er gesagt und somit meinen Tag vollkommen auf den Kopf gestellt. Hätte ich Nein sagen sollen? Doch wie wäre ich dann nach Hause gekommen? Wieder einmal war er für mich da, als es kein anderer sein konnte. Aber das machte ihn noch lange nicht zu einem guten Menschen... oder? Ab wann ist ein Mensch gut? Die Gefallen, die er mir getan hatte, änderten nichts daran, dass er Frauen noch immer ausnutzte und Max terrorisierte. Als er mich nach Hause fuhr, hatte ich jedoch das Gefühl, einen anderen Billy neben mir sitzen zu haben.
Er war nett, sogar witzig und ein interessanter Gesprächspartner. Wir hatten viel mehr Dinge gemeinsam, als ich es mir jemals hätte erdenken können. Wir hörten ähnliche Musik, liebten Sport und... naja, das war's auch schon wieder. Nichtsdestotrotz waren es zwei Dinge mehr, als ich zunächst vermutet hatte. Und das seltsamste an der gesamten Situation war, dass er mich tatsächlich einfach nach Hause gefahren hat. Er hatte nicht mal vorgeschlagen, noch irgendwo anzuhalten oder hinzugehen. Er brachte mich nach Hause, wünschte mir einen schönen Tag und fuhr schon wieder weg. Diese gesamte Situation stank gewaltig und damit meinte ich nicht die Zigaretten! Ich durfte bei all dem bloß nicht vergessen, dass er immer noch eine Wette mit Tommy am Laufen hatte und das alles wahrscheinlich nur tat, um diese auch zu gewinnen... aber nicht mit mir!
Plötzlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Seit zwei Tagen schon, hatte ich dieses seltsame Gefühl und wusste, dass es nichts Gutes heißen konnte. Dieses Gefühl wurde immer stärker und stärker. Es kroch bis in meine Fingerspitzen und hielt so lange an, bis sich meine gesamte Körperbehaarung aufstellte und ich eine Ganzkörper-Gänsehaut bekam. Abrupt hörte ich auf zu spielen und schüttelte mich.
„Dottie!"
Ich zuckte zusammen. Nicht, weil ich nicht damit gerechnet hatte, sondern weil die Stimme nur wenige Zentimeter von mir entfernt war. Ich blinzelte mehrmals, da es nicht die Stimme war, die ich erwartet hatte. Nancy?
„Dottie, bist du okay?", fragte eben diese besorgt. „Ich hab schon mehrmals versucht dich anzusprechen, aber du hast nicht reagiert."
Irritiert blickte ich zu ihr auf, da sie neben meinem Bett stand, auf dem ich saß.
„Naja, ich habe doch die ganze Zeit Gitarre gespielt und war recht konzentriert dabei."
„Was? Dottie, du saßt einfach nur da, seitdem ich reingekommen bin und warst wie versteinert."
Nun war ich vollkommen verwirrt. Was sollte das? Wollte sie mich reinlegen? Aber das sah Nancy gar nicht ähnlich und witzig war es auch nicht.
Ich schüttelte den Kopf. „Für mich war es doch nur ein Augenblick... seltsam..."
Nancy schloss meine Zimmertür und setzte sich schließlich neben mich. Ich spürte ihre Anspannung und Unbeholfenheit.
„Dottie, ich...", begann sie schließlich. „Dir ist wahrscheinlich nicht entgangen, dass ich dir heute, in der Schule, aus dem Weg gegangen bin. Es ist nur... Ich schäme mich, Dottie. Gestern hätte ich für dich da sein sollen, aber stattdessen habe ich dich, auf der Party, im Stich gelassen. Es tut mir so furchtbar leid!"
Ich seufzte. „Ach Nancy, erschreck mich doch nicht so! Ich dachte, es wäre sonst was passiert"
„Das ist es doch auch!", beharrte sie. „Ich zerre dich auf eine Party, auf die du nicht mal gehen wolltest und dann lasse ich dich allein, weil ich mich betrinken will! Und das alles nur aus Trotz... Es war so unfassbar dumm von mir."
„Aber wieso wolltest du dich überhaupt betrinken? Ist etwas zwischen dir und Steve passiert?"
Nancy seufzte und wir legten uns gemütlich auf mein Bett, um besser reden zu können. Wir lagen einander zugewandt und kuschelten uns in die Kissen. Früher haben wir das oft getan, als noch alles normal war. Oder eher so normal, wie es sein konnte. Doch früher waren wir noch zu dritt... So oft haben wir uns bei Nancy oder mir getroffen, gelernt und gequatscht. Aber seitdem wir nur noch zu zweit waren, haben Nancy und ich nicht mehr viel unternommen. Sie fehlte mir.
„Ich vermisse sie, Dottie.", hauchte Nancy, sodass ich es gerade verstehen konnte. Ihre Stimme zitterte und brach schließlich. Sie begann zu schluchzen und auch ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war bald ein Jahr her und doch schmerzte es noch genauso wie am ersten Tag. Sie war fort. Und anders als Will, konnten wir sie nicht retten.
„Ich vermisse Barb, ich vermisse die gemeinsamen Mädels Abende, ich vermisse ihre Stimme der Vernunft und ihr ‚ich hab es dir doch gleich gesagt' nachdem ich ihren Rat ignoriert habe.", sagte Nancy und musste bei dem letzten Punkt kurz auflachen. Auch ich kicherte bei der Erinnerung daran.
„Weißt du noch, als ich ihr zum ersten Mal ein Lied von Metallica gezeigt hatte?"
Erneut lachte sie. „Und ob! Sie war so schockiert und ich hatte schon Sorge, sie würde in der nächsten Nacht Albträume kriegen!"
Einen Moment hielt ich inne. Sollte ich ihr schon davon erzählen? Ich beschloss, es einfach zu wagen.
„Was meinst du wohl, würde sie zu meiner Situation mit Billy sagen?", fragte ich Nancy. Diese konnte nicht anders, als zu kichern.
„Sie wäre empört! Und das ist noch nett ausgedrückt."
„Ja, allerdings...", sagte ich nachdenklich.
„Dottie, alles okay?"
„Wir haben uns ja seit gestern nicht mehr gesehen, also kannst du es noch gar nicht wissen..."
„Warte... WAS? Habt ihr etwa – "
„Nein, um Himmels Willen! Soweit kommt's noch!"
„Puh, dann bin ich beruhigt."
„Als ich gestern allein auf der Party war, wollte mir niemand helfen. Ich war komplett orientierungslos und wusste nicht, was ich tun sollte. Niemand scherte sich um mich."
„Oh Gott, Dottie... Ich... Ich hatte ja keine Ahnung..."
„Mach dir keine Gedanken, ja? Was geschehen ist, ist geschehen. Aber du kannst vergessen, dass ich je wieder auf eine Party gehe!"
„Keine Sorge, ich werde die letzte sein, die versuchen wird, dich zu überreden. Also, was ist dann passiert? Wie hast du es rausgeschafft?"
„Ich lag auf dem Boden, weil mich jemand gestoßen hat, und fühlte mich hilflos. Doch dann hat mir jemand geholfen aufzustehen und mich nach draußen begleitet. Zuerst dachte ich, es war Jonathan und kurz darauf sprach mich Billy an, der auch draußen war. So ein Zufall, oder? Jedenfalls haben wir dann etwas geredet, er war wieder ekelhaft zu mir und ich bin gegangen. Aber heute Morgen habe ich erfahren, dass er es war, der mich ‚gerettet' hat. Ist das zu glauben?"
„Moment, was?"
„Genauso habe ich auch reagiert! Und heute Nachmittag, nachdem ich vom Cheerleader- und er vom Basketball-Training kam –"
„Du warst bei den Cheerleadern?"
„Oh ja, Chrissy hatte mich eingeladen, nachdem ich mit ihnen zu Mittag gegessen hatte."
„Ach was? Es freut mich, dass ihr wieder zueinanderfindet... Aber egal, erzähl weiter!"
„Jedenfalls, habe ich mich dann bei ihm bedankt und wollte gehen, jedoch wusste ich nicht wie und wohin..."
Ich zögerte. Die Erinnerung war noch so frisch und fühlte sich unwirklich an. Und bei dem Gedanken daran, begann mein Herz schneller zu schlagen.
„Billy hat mir angeboten, mich mitzunehmen und ich... hab Ja gesagt."
Nancy atmete erschrocken auf. „Du hast WAS?"
Ich schluckte und nickte, doch blieb ich zunächst stumm. Einen Moment schien auch sie die neue Information verarbeiten zu müssen. Dieser Moment dauerte allerdings nicht lang und sie fragte nach den Details... und die gab ich ihr auch. Natürlich ließ ich auch meine Zweifel, an der Situation, nicht aus. Nancy war genauso überrascht und traute dem ganzen genauso wenig wie ich und schließlich kamen wir zu dem Auslöser der Geschichte zurück.
„Barb wäre schockiert und würde dir sofort sagen, dich von Billy fernzuhalten!"
„Natürlich würde sie das.", stimmte ich ihr zu. „Doch wer bin ich, wenn ich ihr nicht die Genugtuung gönnen würde, mir ‚ich hab's dir doch gleich gesagt' zu sagen, nachdem Billy mir das Herz auf grausamste Art und Weise gebrochen hat?"
Wieder mussten wir lachen, doch dann wurde es ruhig. Es wurde so still, dass das Ticken meines Weckers das einzige Geräusch war, das mein Zimmer füllte.
„Niemand weiß es...", sagte Nancy schließlich leise. „Niemand weiß, wie sie gestorben ist. Niemand weiß, dass sie überhaupt gestorben ist und welche Firma dafür verantwortlich ist!"
Ich konnte spüren, wie sich Wut und Frustration in ihr aufstauten. So hatte ich sie bisher nur letztes Jahr erlebt, als sie entschlossen war, den Demogorgon zu töten. Es war dieselbe Leidenschaft wie damals, die in ihr aufflammte.
„Ich will sie fertigmachen...", begann sie. „Aber weißt du, was Steve dazu sagt? Er hat Angst, dass sein Vater von der Party erfährt, die wir damals bei ihm hatten! Er meinte, wir sollten einfach unser Leben weiterleben. Barb ist ihm vollkommen egal und ich scheinbar auch..."
Langsam begann ich zu verstehen. „Deswegen hast du dich gestern betrunken... stimmt's?"
„Ja...", sagte sie mit zitternder Stimme. „Wir sind nicht mehr zusammen... Ich konnte es einfach nicht mehr..."
Wir rückten näher zusammen und hielten uns in den Armen. Sanft strich ich Nancy über den Rücken und drückte sie an mich. Ein neuer Schauer bahnte sich an, doch diesmal intensiver. Erinnerungen blitzten vor meinem inneren Auge auf. Mein Spiegelbild. Meine Schwestern. Ein zerbrochener Spiegel. Mein zerbrochenes Spiegelbild. Moment. Das waren keine Erinnerungen. Alex. Dustin. Will. Nancy. Steve. Jonathan. Lucas. Mike. Chrissy. Und... Billy? Was hatte er hier zu suchen? Immer wieder wechselte das Bild zwischen ihnen. Sie sagten ihre Namen immer... und immer wieder, als würden sie sich vorstellen. Schnell hielt ich mir den Kopf. Es fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Die Stimmen wurden lauter. Immer lauter.

Stille. Ich sah meinem Spiegelbild in die Augen, das mich freundlich anlächelte.
„Hi, ich bin Dottie!"

Ich bin Dottie || Billy & Eddie Stranger Things FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt