Die Begegnung mit Colin ließ mich unruhig schlafen und als mein Wecker schließlich zur Spätschicht klingelte, waren meine Augenlider nicht nur schwer, sondern auch vor Müdigkeit geschwollen. Ein Albtraum über das Aufeinandertreffen mit dem Nicht-Gast-oder-doch-Gast hatte den anderen gejagt, doch das Ende war jedes Mal dasselbe. In jedem Ablauf wurde ich in das Büro von Mister Mayfare gebeten, wo der Hoteleigentümer hinter dem großen Eichenholzschreibtisch saß. Seine Tochter Stella stand hinter ihm an einem der Sprossenfenster und hatte bei meinem Anblick jedes Mal zu kreischen begonnen: »Das ist sie, Daddy! Das ist das grässliche Mädchen, das mich einfach so verraten hat!«
Jedes Mal hatte ich meine Unschuld beteuert und schlussendlich zu weinen begonnen, bevor ich gefeuert wurde und unter dem höhnischen Gelächter sämtlicher Gäste und Kollegen vom Gelände eskortiert wurde. Stella hatte mir meine Koffer sowie die einzelnen Kleidungsstücke aus dem schmalen Schrank nach geworfen und gerufen: »Verschwinde von hier! Wir wollen dich nie wieder sehen! Hörst du?«
Und bei jedem Rauswurf sah ich den braunhaarigen Colin in seiner Lederjacke und den Boots auf einem übergroßen Schneehaufen sitzen und das Spektakel mit triumphierendem Blick beobachten. Und jedes Mal, wenn ich auf ihn aufmerksam gemacht hatte, hatte er gegrinst und gesungen: »Spar dir die Mühe, ich habe sowieso gewonnen.«
Es war wirklich kein Wunder, dass ich vor Panik und Angst nassgeschwitzt war und mir die Decke beim Klingeln des Weckers über den Kopf zog. Meine wirren Träume ergaben keinen Sinn, dessen war ich mir mehr als bewusst.
Ich hatte während meiner gesamten Zeit hier im Chateau noch nicht einmal erlebt, dass Mister Mayfare oder seine Tochter laut gegenüber einem Angestellten oder Gast geworden waren. Es wurde während meiner gesamten Zeit hier auch niemand gefeuert oder vom Gelände eskortiert. Ich hatte keine Ahnung, woher mein Unterbewusstsein diese Ängste projizierte. Und ganz besonders konnte ich mir nicht vorstellen, dass Stella ihren Vater ›Daddy‹ nannte. Dazu war ihr Selbstbewusstsein einfach zu stark.
Dreimal wagte ich mich, die Schlummertaste auf meinem Handy zu drücken, ehe ich mich doch aus den warmen Lacken schob. Um diese Uhrzeit war ich allein im unserem Schlafraum, denn die anderen Zimmermädchen hatten einen weiteren Tag in der Frühschicht verbracht und würden erst in einer Stunde zurückkehren. Je Hütte gab es zwei Schlafräume mit jeweils zwei Stockbetten, die wir uns alle teilen mussten. Nur die höheren Posten des Hotels, wie Monsieur Laurent zum Beispiel hatten den Luxus eines Einzelzimmers. Für mich war das zu Beginn eine große Umstellung und das Atmen der anderen ließ mich nachts zuerst kein Auge zu tun. Mittlerweile fühlte es sich jedoch beinahe seltsam an, mich allein für den Tag fertig zu machen.
Zu meiner Überraschung saß Gracy mit ihrem Kindle auf dem Sofa im Wohnbereich und nippte dabei an einer dampfenden Tasse Tee. Ihr helles goldenes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern, doch unter ihrem übergroßen grauen Pullover erkannte ich bereits ihre hautfarbene Arbeitsstrumpfhose.
»Guten Mittag, Langschläferin«, zog sie mich auf und legte den E-Reader auf den Wohnzimmertisch. Er war aus demselben Holz wie die Wände der Blockhütte gefertigt und bestand aus einem massiven Block und einer darauf befestigen runden Glasscheibe. Jemand hatte seit gestern ein paar Nüsse, Tannenzapfen und goldene Sterne darauf dekoriert.
DU LIEST GERADE
Château de rêves | 2022
RomanceMitten in den verschneiten kanadischen Rocky Mountains erhebt sich das ›Château de rêves‹, in welchem sich vor allem zur Weihnachtszeit die Schönen und Reichen mit ihren Festlichkeiten tummeln. Hochzeiten, Babypartys, Geburtstage und nicht zuletzt d...