Nur etwa ein Drittel der Hochzeitsgäste checkten heute aus, doch wir hatten am Nachmittag damit einen ordentlichen Batzen Arbeit. Normalerweise war der Check-out bis 11:00 AM angesetzt. Für die Gäste der Altings galten jedoch ausnahmsweise andere Regeln, immerhin mussten sich alle nach der Party erstmal ausschlafen. Nach dem Mittagessen kamen die ersten Gäste aus ihren Zimmern und gemeinsam mit Daria und Monsieur Laurent kümmerte ich mich um die schnelle Bearbeitung an der Rezeption. Die beiden Pagen hatten alle Hände voll zu tun, die Koffer und Taschen zu den Autos zu bringen, und wann immer ich dachte, mir einen Schluck meines Wassers genehmigen zu können, kam bereits wieder der nächste Gast oder das Telefon klingelte.
Zur Abwechslung ließ sich der Diplomatensohn Jack Mitchell ausnahmsweise nicht in der Lobby blicken und gegen Ende meiner Schicht, als es wieder ruhiger wurde und Daria sich bereits im Feierabend befand, machte ich mir sogar beinahe Sorgen um den unsympathischen Kerl.
Am Arbeitsplatz neben mir legte Monsieur Laurent den Telefonhörer wieder auf das Hauptgerät und sah dann zu mir herüber. »Miss Mayfare bittet dich, in ihrem Büro vorbeizuschauen. Es sind nur noch zehn Minuten bis zur Übergabe mit der Nachtschicht. Sie können gehen, Alice. Ich schaffe das allein.« Mit einem warmen Lächeln bedachte der Mann mich und seine dunkelbraunen Augen funkelten zuversichtlich. »Gehen Sie schon.«
Obwohl sich das schlechte Gewissen in mir meldete, hörte ich auf ihn und verließ meinen Posten an der Rezeption. Ich war überaus pflichtbewusst, doch Henry hatte in der Küche letzte Woche Recht: Stella Mayfare ließ man nicht warten. Deshalb machte ich mich auf den Weg ins Personaltreppenhaus und stieg die Stufen nach oben. Die Absätze meiner Pumps klackerten bei jedem Schritt auf dem Parkett und das Geräusch wurde von den Wänden beinahe wie ein Echo zurückgeworfen.
Ich hatte keine Ahnung, was Stella von mir wollte. Wir haben die gestrige Überwachung der Hochzeit super über die Bühne gebracht und erst, als die Party in vollem Gange und die Tanzfläche gut gefüllt war, hatten wir die letzten Instruktionen an das Serviceteam weitergegeben und uns verabschiedet. Stella hatte sich durch das Schneegestöber nach Hause gekämpft und ich hatte mich im Personalzimmer oben umgezogen, um meine Schicht an der Rezeption anzutreten.
Die Büros der Mayfares befanden sich im Personalbereich des ersten Stocks, unweit der Konferenzräume, die das Hotel für Tagungen zur Verfügung stellte. Ich betrat den abgesperrten Bereich mit meiner Mitarbeiterkarte, die ich immer in der Tasche meines Blazers dabei hatte. An den Wänden befanden sich Fotos aus den Epochen der Hotelgeschichte. Man konnte die Entwicklung des Gebäudes über Jahre hinweg verfolgen. Außerdem gab es von jeder Generation ein paar Familienporträts, die ebenfalls an den Wänden hingen.
Das zweite Büro auf der rechten Seite gehörte Stella. Von hier aus konnte man perfekt auf den Parkplatz und das Blockhüttendorf dahinter blicken. Das wusste ich aus meinen vorherigen Besuchen bei ihr.
Mein Blick glitt zu der silberfarbenen Armbanduhr, die ich um mein linkes Handgelenk trug. Sie zeigte mir 07:54 PM und ich atmete tief durch, ehe ich gegen das warme Holz der Tür klopfte.
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Château de rêves | 2022
RomanceMitten in den verschneiten kanadischen Rocky Mountains erhebt sich das ›Château de rêves‹, in welchem sich vor allem zur Weihnachtszeit die Schönen und Reichen mit ihren Festlichkeiten tummeln. Hochzeiten, Babypartys, Geburtstage und nicht zuletzt d...