Gracy lenkte den Wagen sicher über die kurvenreiche Straße, während Ed Sheeran aus den Boxen schallte und die Schneelandschaft auf der anderen Seite der Scheiben vorbeizog. Bis nach Calgary waren es zwei Stunden mit dem Auto und wir hatten es mittlerweile fast geschafft.Ich saß auf dem Beifahrersitz und grölte gemeinsam mit den anderen zur Musik, doch mit meinen Gedanken war ich an einem vollkommen anderen Ort.
Colin war ein Mayfare. Colin war Stellas Bruder. Colin war die Person, von der mit Grace während der Vorbereitungen zur Party erzählt hatte. Er war der Mayfare, der sich seit Tagen – seit dem 02. Dezember genauer gesagt – heimlich auf dem Anwesen herumtrieb. Ich zweifelte nicht daran, dass ihn außer mir niemand gesehen hatte. Wann immer ich ihm begegnet war, war weit und breit niemand anderes zu sehen. Abgesehen von gestern, als Stella hereingeplatzt war.
Jetzt, wo ich von seiner Herkunft und Zugehörigkeit im Hotel wusste, machte auch sein erster Auftritt Sinn. Er wollte Stella logischerweise weder nachstellen noch belästigen. Er wollte einfach nur seine Schwester sehen. Jetzt kam mir mein Verhalten bei unserer ersten Begegnung noch lächerlicher vor. Ich verstand nur nicht, warum er mir nicht gesagt hatte, wer er war.Seit gestern Nacht war ich von einer inneren Unruhe erfasst und konnte mich kaum auf etwas anderes konzentrieren als auf diese Erkenntnis. Leider hatte ich nicht die Gelegenheit, Colin mit der offengelegten Wahrheit zu konfrontieren und deshalb wusste ich nicht, was er zu seiner Verteidigung sagen würde. Nachdem ich ihm in den letzten Tagen immer einmal begegnet war, hatte ich ihn am gestrigen Tag keine einzige Sekunde zu Gesicht bekommen. Stella hatte es tatsächlich geschafft, meine Schicht zu tauschen und während des gesamten Nachmittags waren meine Augen suchend durch die Lobby gewandert. Mein Blick nur an den Gästen hängengeblieben, nicht jedoch an der Person, die ich eigentlich suchte. Es war, als wäre Colin nach unserer Nachtschicht vom Erdboden verschluckt worden.
Dabei wollte ich absolut nichts lieber, als den brünetten Kerl in Schwarz mit den Vorwürfen konfrontieren. Ich wollte eine Erklärung von ihm. Das sagte mir zumindest mein Gehirn. Doch da war noch eine andere Sache in meinem Körper, die dafür sorgte, dass ich mir den Kopf über Colin zerbrach.
Bisher hatte ich es mir selbst nicht erlaubt, weiter über ihn nachzudenken, doch jetzt, wo ich von seiner Verbindung zu Stella wusste, meldete sich ein zaghaftes Ziehen in meiner Brust. Es war überaus verräterisch, doch es war da und ich konnte es nicht leugnen.
Und es gab eine Sache, die mit diesem Gefühl zusammenhing und die ich wesentlich lieber tun würde, als ihn zur Rede zu stellen. Ich wollte mehr über Colin Mayfare erfahren. Das kribbelige Gefühl in meinem Körper verlangte nach Informationen über ihn. Wie alt war er, was waren seine Hobbys und Interessen, was aß er am liebsten? Konnte er singen oder spielte er ein Instrument? Hatte er Haustiere, wo studierte er, mit wem war er befreundet? Ich wollte absolut alles über ihn wissen, egal wie klein und unbedeutend es auch zu sein schien.
Gracy hatte das Thema ihrerseits nicht mehr angesprochen, weil es einfach nicht gepasst hatte. Und ich wollte sie auf keinen Fall nach Informationen über den Sohn unserer Chefs fragen. Das würde seltsam aussehen, vor allem weil ich mich bisher absolut nicht für die Kinder der Mayfares interessiert habe – von Stella mal abgesehen, da sie für die Dienstpläne verantwortlich war und naja, hier auf dem Gelände lebte.
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Château de rêves | 2022
RomanceMitten in den verschneiten kanadischen Rocky Mountains erhebt sich das ›Château de rêves‹, in welchem sich vor allem zur Weihnachtszeit die Schönen und Reichen mit ihren Festlichkeiten tummeln. Hochzeiten, Babypartys, Geburtstage und nicht zuletzt d...