Wir hatten uns gestern Nacht nicht mehr gesehen und vermutlich war das auch besser so. Henrys Worte hatten mir zu denken gegeben und auch jetzt, wo eine unruhige Nacht hinter mir lag und ich damit beschäftigt war, unzählige weißer Luftballons mit Helium zu füllen, ließen sie mich nicht los. Pausenlos dachte ich an die überaus deutliche Warnung und mit jeder Stunde, die verging, begann mein Kopf zunehmend zu pochen.
Die Gedanken rasten hinter meiner Stirn und obwohl ich mit beiden Beinen auf festem Boden stand, schwankte die Welt um mich herum. Schmerzhaft schlug das Herz gegen meinen Brustkorb und ich spürte ein schweres, beklemmendes Gefühl auf meinen Schultern lasten.
Henrys Warnung hatte einfach alles verändert. Er hatte mir nichts gesagt, das ich nicht bereits wusste, und dennoch hatten seine Worte einen fahlen Geschmack in meinem Mund hinterlassen. Und egal, was ich tat, ich konnte ihn einfach nicht vertreiben. Ich hatte gegessen, getrunken und mir sogar eine Zigarette von Gracy geschnorrt, an der ich beinahe durch einen Hustenanfall gestorben wäre.
Seit gestern hatte die Welt ihre Farbe verloren und verschwamm vor meine Augen zu einem grauschwarzen Brei. Mein Herz sehnte sich nach Colin und ich wollte nichts lieber, als nach meinem Handy greifen und ihm genau das schreiben. Ich wollte mich entschuldigen, weil ich ihn gestern mit einer lächerlichen Ausrede hatte sitzen lassen und ich wollte ihn bitten, nicht von mir und meiner Reaktion enttäuscht zu sein.
Doch so sehr ich diesem Drang in mir auch nachgeben wollte, ich konnte nicht. Mein Handy hatte ich am Morgen in meinem Spind unter dem Dach eingeschlossen und seither natürlich keinen Blick mehr darauf geworfen. Die Küche mied ich zur aktuellen Mittagszeit und hatte mir stattdessen ein spätes Frühstück gegönnt.
Die Stille, in der ich arbeitete, dröhnte beinahe in meinen Ohren und ich fragte mich, ob ich doch etwas von dem Helium eingeatmet und das chemische Element den Verstand vernebelt hatte. Von den anderen Mitarbeitern des Veranstaltungsteams war ich seltsam schief angesehen worden, weil ich mich ihnen zum Mittagessen nicht angeschlossen hatte. Aber es war mir lieber, für einen kurzen Moment das damit verbundene Unwohlsein auszuhalten, als eventuell doch Collin über den Weg zulaufen und meinen Körper seinem Einfluss auszuliefern.
Ich wusste nicht, wie wir nun miteinander umgehen sollten und konnten. Irgendwie fühlte sich jeder Gedanke an Colin seit gestern seltsam verboten an, doch ich konnte einfach nicht damit aufhören.
Die große Flügeltür zum Ballsaal wurde geöffnet und ich hob den Blick von meiner Arbeit und musterte eine bekannte Gestalt, wie sie den Raum betrat. Um die Tür herum war bereits das Stahlgerüst aufgebaut, an welchem heute noch der Vorhand befestigt werden würde. Der hellblaue Stoff sollte einen würdevollen Ein- und Ausgang symbolisieren und ich war bereits gespannt, das Ergebnis zu sehen. Stella hatte heute sicherlich einhundertmal erwähnt, wie wichtig es war, den dicken Stoff aushängen zu lassen und eventuell mit heißem Wasserdampf zu glätten.
»Wird das jetzt zur Gewohnheit oder ist es reiner Zufall, dass du dich vor mir versteckst?«, fragte Colin und musterte mich, während die Tür hinter ihn mit einem lauten Geräusch ins Schloss fiel.
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Château de rêves | 2022
Roman d'amourMitten in den verschneiten kanadischen Rocky Mountains erhebt sich das ›Château de rêves‹, in welchem sich vor allem zur Weihnachtszeit die Schönen und Reichen mit ihren Festlichkeiten tummeln. Hochzeiten, Babypartys, Geburtstage und nicht zuletzt d...