Kapitel 1 • Ein Brief überrascht

256 1 0
                                    

Indem Ben über die Unwägbarkeiten des Lebens sinniert und einen Brief erhält, der ihn nicht nur überrascht, sondern auch erstaunt.

***

Ich mag keine Überraschungen.

Völlig losgelöst von derartigen Gedanken begann ich jenen Tag im Frühherbst mit den üblichen Gedanken um die anstehenden beruflichen Aktivitäten, vermischt mit dem von schlechtem Gewissen geprägten Absichten, meinen Hausarzt wieder einmal zu besuchen. Nicht aus freundschaftlicher Sehnsucht, versteht sich. Verschiedene Nachrichten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis über sehr unangenehme und besorgniserregende Diagnosen haben meine harte Schale erschüttert. Wenn man die Fünfzig überschritten hat kann das System des Lebens schon schleichende Defekte haben, die mangels klarer Symptome im Verborgenen schlummern und dich irgendwann böse überraschen.

Ich mag keine Überraschungen. Ganz egal welche.

Der Tag im Büro war hektisch wie immer. Zu viele Menschen wollten etwas von mir. Ich war genervt und nahm mir vor, effektive Überlegungen zu einer effektiveren Delegation verschiedener Aufgaben anzustellen. Gleich heute Abend! Auch wenn es als selbstständiger Unternehmer fast nicht möglich ist, sich wirklich rauszunehmen. Am Ende kommen die zu leichtfertig an andere übertragene Verantwortlichenkeiten dann doch wieder zurück wie ein Bumerang. Meistens dann, wenn man nicht damit rechnet.

Ich mag wirklich keine Überraschungen. Auch solche nicht.

Ein kleiner Lichtblick war mein Mittagessen. Alleine, unweit des Büros, an einem Tisch, der vor dem Restaurant auf dem Gehweg stand. Mein Mobiltelefon hatte ich im Büro gelassen. Welch schönes Gefühl, der Abgeschiedenheit. Hier, mitten in der Stadt! Würde ich ein wichtiges Telefonat oder eine noch wichtigere Nachricht verpassen? Na wenn schon. Ich gab mir Mühe, Gleichgültig zu sein. Es gelang nicht ganz. Mist aber auch. Warum hatte ich das Ding vergessen, in meine Hosentasche zu stecken?

In den Minuten, die ich auf mein Essen wartete, sah ich dem vorbeifahrenden Verkehr und den Menschen zu, die vorbei gingen. Es beruhigte und lenkte mich ab. Am Ende schlenderte ich gesättigt und entspannt zurück an meinen Arbeitsplatz. Überrascht sah ich, dass weder ein Anruf in Abwesenheit, noch eine ungelesene Nachricht in der Zwischenzeit eingegangen war. Na also, es gibt also auch angenehme Überraschungen.

Trotzdem wäre ein Leben ohne sie einfacher. Finde ich.

Dann kam sie, die Überraschung. Ohne Vorwarnung, wie üblich. Sie kam altmodisch einfach per Post und steckte zwischen zwei Rechnungen und einem Schreiben der Versicherung, die über eine neuartige Zahlersatzversicherung informiert.

Der Umschlag war unauffällig, meine Adresse handgeschrieben. Gleichmäßige, schön geschwungene Buchstaben ließen mich an eine weiblichen Absender glauben. Auf der Rückseite stand nichts. Ich musste das Kuvert öffnen, um meine Neugier zu bedienen. Ich tat es im Sitzen, auf dem Sofa im Wohnzimmer. Die richtige Entscheidung. Der Inhalt verblüffte mich.

Sehr geehrter Herr

Bitte seien Sie mir nicht böse, dass ich mich unaufgefordert mit diesem Brief an Sie wende. Es ist mir bewusst, dass Sie allen Grund hätten, mir vorzuwerfen, ich sei unverfroren und respektlos. Doch ich bitte Sie inständig, mich nicht vorzuverurteilen und mir und meinem Anliegen eine Chance zu geben. Nichts anderes wünschte ich mir sehnlicher!

Wir kennen uns bereits vom Sehen und haben auch schon ein paar Worte miteinander gewechselt. Allerdings glaube ich nicht, dass ich Ihre ganze Aufmerksamkeit bekommen habe. Die Umstände unserer Begegnungen könnten das auch kaum als wahrscheinlich erscheinen lassen.

Ich bin eine junge Frau, die sich mit fast schmerzhaftem Verlangen nach Erfahrungen sehnt, die mir mein Leben vorenthält. Da ich keinen Ansatzpunkt sehe, Hoffnung zu schöpfen, muss ich diesen Schritt gehen. Auch wenn er sehr gewagt ist und fehl schlagen könnte. Doch dann habe ich es wenigstens versucht.

Nimm dir die dunkle Seite meiner SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt