Kapitel 30

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„Nur 68 Prozent, die haben ja Tomaten auf den Augen! Wir müssen da sofort hin, und uns beschweren!" zeterte Charly, die neben meinem Hengst her ging. „Die ham ja nemme alle Ladda am Zaun!" erzürnte sich auch Michi, der mit vollbepackter Putztasche auf meiner anderen Seite her ging, und zog dabei so feste seine Augenbrauen zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten. Ich saß nur komplett still auf Olympio und ließ den Rummel um mich herum geschehen. In mir war kein einziger Gedanke, mein ganzes Hirn war wie leergefegt. Gerade eben hatte ich meine erste Kür seit dem desaströsen Ende in Fontainebleau geritten und somit auch zeitgleich mein Kür-Debüt in der Show gegeben. Olympio hatte sich toll reiten lassen, war sehr konzentriert gewesen und auch ich hatte, bis auf eine Unsicherheit vor den Wechseln ihn gut pilotiert. Die Richter waren sich jedoch einig gewesen und hatten für unseren Ritt 68 Prozent gegeben. Damit lag ich derzeit weit abgeschlagen hinten und anstatt um die vorderen Plätze zu kämpfen, wie es in der Princess-Show vor zwei Jahren gewesen war, so musste ich nun darum bangen, nicht schon in der ersten Runde rauszufliegen. Doch all das zog nur so an mir vorbei, ebenso wie die Fans, die sich auch zahlreich um die Aufwärmarena, in die ich nun wieder einritt, versammelt hatten, um ihre Showlieblinge anzufeuern.

„Valerie! Ein Interview bitte!" Ein besonders eifriger Journalist mit Hornbrille lehnte sich gefährlich weit über die Absperrung, die den sandigen Weg zwischen Abreiteplatz und Showarena begrenzte. Michi schüttelte nur unwirsch den Kopf und nahm meinen Fuchs seinerseits an die Zügel und führte ihn so bestimmt an dem Mann vorbei. Doch dieser schien sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen, denn er rief mir noch laut hinterher: „Wären Sie denn überhaupt angereist, wenn Sie gewusst hätten, dass sie schon nach Runde 1 wieder heimfahren müssen?" Seine Worte schnitten mir ins Fleisch und plötzlich spürte ich wieder alles, was zuvor in einem Art Tunnel an mir vorbeigeschossen war. Schmerz überrollte mich und ich streckte angestrengt den Rücken durch, und versuchte tief durchzuatmen.

„Ich finde, Sie sollten Ihren Ton etwas zügeln. Zum einen ist mein Schützling noch nicht ausgeschieden, da noch fünf Starterpaare ausstehen und zum anderen haben sowohl Pferd und Reiterin eine lange Pause hinter sich, die die beiden jedoch sicherlich in Zukunft mit ihrer Klasse ausgleichen können!" Eilte mir glücklicherweise mein Trainer Ruben zur Hilfe, der nachdenklich hinter mir hergegangen war, und nun einen Moment anhielt, um den Journalisten einen scharfen Blick zuzuwerfen. „Und nun entschuldigen Sie uns, Olympio muss noch abgewärmt werden!" Mit großen Schritten entfernte sich der Dressurtrainer von der Absperrung und schloss die wenigen Schritte wieder zu unserem Trupp auf. Charly war zwei Schritte abseits gegangen und telefonierte inzwischen lebhaft auf Deutsch, wahrscheinlich setzte sie meine Eltern in Kenntnis, die mir fest versprochen hatten, vor dem Bildschirm meine Prüfung zu verfolgen. Dieser Trubel machte mich verrückt. Der Kloß, der sich seit den harschen Worten des Zeitungsmenschen in meinem trockenen Hals gebildet hatte, wurde immer größer und größer. Meine Gedanken, die zuvor verstummt waren, rasten nun nur so durch meinen Kopf und meine Handflächen in den weißen Handschuhen waren klatschnass. „Valerie?" Eine warme Hand legte sich beruhigend auf mein Knie. Rubens braune Augen musterten mich besorgt. „Kannst du Olympio noch eine Runde leichttraben? Oder gehen wir sofort in die Stallungen zurück?" Fragte er mich ruhig. Ich setzte zum Sprechen an, doch kein Wort wollte meinen Mund verlassen. Tränen drückten gegen meine Augen, warteten nur darauf, freigelassen zu werden.

Er nickte verstehend und winkte nun Michi heran, der die Situation sofort zu verstehen schien und wieder Olympios Zügel nahm. „Mir bringed dich hier weg, Mädle. Isch scho gut!" Raunte der bärtige Schwabe mir beruhigend zu und führte mein Pferd zügig aber ruhig vom Abreiteplatz in Richtung der Stallungen. An den gesamten Wegen, die glücklicherweise abgesperrt waren, waren Menschen, die uns neugierig hinterherstarrten und teilweise auch fröhlich zuwinkten. Einer hatte sogar eine Österreich-Flagge dabei, die er glücklich in die Luft hielt, als wir ihn passierten. Ich schaffte es nicht mal, meine Lippen zu einem dankbaren Lächeln zu verziehen, da ich mir den gesamten Weg auf die Backeninnenseite biss, um nicht komplett durchzudrehen. Doch nach wenigen Minuten, die sich für mich wie Stunden anfühlten, erreichten wir die Stallungen und Michi führte Olympio direkt in seine Box, während Ruben die Boxentüre schloss und den Boxenvorhang so verschob, dass man nicht in die Box hineinsehen konnte. „So Mädle, jetzt kannsch erscht mal runter!" Michi überreichte meinem Trainer das Pferd und stellte sich dann auf die linke Seite. Als hätte er es geahnt, denn als ich versuchte normal von Olympio abzusteigen, verließ plötzlich alle Kraft meine Muskeln und ich wäre wie ein nasser Sack im Heu gelandet, hätte mein Pfleger mich nicht geistesgegenwärtig aufgefangen. Und das war der Moment, in dem bei mir alle Dämme einrissen. Ein lautes hilfloses Schluchzen entfuhr mir und heiße dicke Tränen kullerten unkontrolliert meine roten Backen hinunter. „Shhh. Alles gut! Mir sind da!" Michi drückte mich vorsichtig an seine Brust und hielt mich, während nach und nach alles aus mir herausbrach. Mein Körper zitterte und meine Sicht war verschleiert durch alle Tränen, die sich sturzbachartig über mich ergossen.

Ich wusste nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten, Michi rieb jedenfalls unermüdlich beruhigend über meinen Rücken und raunte mir immer wieder beruhigende und aufmunternde Worte zu. Nach und nach hörten erst die Tränen und dann das Zittern auf und schließlich löste ich mich vorsichtig aus der wärmenden Umarmung. Beschämt rieb ich mir mit den Händen über das Gesicht, in dem Versuch, meine versiegenden Tränen wegzuwischen, scheiterte jedoch wahrscheinlich kläglich. „Setz dich erst mal für eine Minute hin, okay?" Schaltete sich Ruben mit weicher Stimme ein und deutete auf den großen silbernen Putzkoffer, mit dem Michi Olympio immer fertig machte. Olympio! Ich hatte in der ganzen Zeit mein Pferd komplett vergessen! Doch der stand bereits komplett abgesattelt und abgetrenst mit einer weichen wärmenden Abschitzdecke neben mir- wahrscheinlich Rubens Werk- und musterte mich neugierig unter seiner festen Stirnlocke, die bis gerade eben unter seinem blauen Fliegenmützchen verborgen gewesen war. Etwas ungelenk folgte ich der Anweisung meines Trainers und plumpste auf die silbrige Sitzgelegenheit und beugte mich gleichzeitig vor, um meinem Pferd dankbar über die Nüster zu streichen. Dabei wäre ich beinahe wieder nach vorne gekippt, hätte Michi mich nicht an der Schulter gebremst. „Na, jetzt aber langsam, gell?" schult er mich liebevoll. Mein Trainer hatte indes sich an der schräg gegenüberliegenden Stallwand angelehnt und musterte mich mit eingehendem Blick, die runde Brille nachdenklich in einer Hand. „Valerie, magst du uns vielleicht erzählen, was diese starke Reaktion in dir auslöst? Vielleicht auch, was dich so blockiert?" Fragte er mich vorsichtig und nickte mir aufmunternd zu, als ich mich räusperte. „Lass dir ruhig Zeit."

Und dann erzählte ich. Erzählte von dem Abend in Fontainebleau, die eiserne Faust, die mir in den Magen geschlagen hatte, als ich aus Versehen erfahren hatte, dass meine Fuchsstute Danci in der Tierklinik gestorben war, während ich auf die EM gefahren war. Ich erzählte auch von meiner halsbrecherischen Flucht aus Frankreich, in den Stall in Baden-Württemberg, in dem Olympio und ich sofort herzlich aufgenommen worden waren. Erklärte Ruben, dass ich mir unter keinen Umständen eine Rückkehr an das Internat hätte vorstellen können, nicht allein wegen London, sondern auch aufgrund meines alten Trainers Georgie, der gleichzeitig als Trainer der deutschen Equipe fungierte und ebenfalls von Dancis Tod gewusst hatte. Doch auch er hatte geschwiegen und das nahm ich ihm bis heute übel. Dieses Erlebnis hatte mich auch dazu bewogen, dem Turniersport den Rücken zu kehren. Und ich erzählte von Alice, von ihrem unvorhergesehenen Auftauchen und davon, wie sehr es mich doch aus der Bahn geworfen hatte. Ein Thema ließ ich jedoch tunlichst aus- allein der Gedanke an den Brand vor wenigen Monaten raubte mir die Luft zum Atmen und schnürte mir die Kehle zu. Ruben und Michi schienen das jedoch nicht zu bemerken und lauschten die ganze Zeit über bedächtig, auch wenn mein Pferdepfleger die Story bereits ausführlich kannte. Er war es gewesen, der seine Stellung im Internat aufgegeben hatte, und mit mir nach Baden-Württemberg gezogen war, indem er das Jobangebot von Silvia angenommen hatte. Ich warf ihm mehrmals während meiner Erzählung dankbare Blicke zu.

Als ich geendet hatte, entstand eine kleine Pause, in der ich ermattet auf dem Putzkoffer zusammensank. Ich hatte sehr viel von mir preisgegeben und fühlte mich nun völlig erschöpft. Ruben atmete tief durch. „Nun ja. Ich wusste zwar, dass deine Abreise völlig Hals über Kopf abgelaufen ist, aber dass da so viel dahinter steckte, davon hatte ich keine Ahnung." Seine klugen braunen Augen suchten meinen Blick. „Fühlst du dich denn überhaupt noch in der Lage, weiter diese Show zu reiten?" Ich schluckte. Dieser Mann war aber auch unheimlich direkt. Mit einem Fuß malte ich unsichere kleine Kreise in die Sägspäne und knackte einmal alle Fingerknöchel an meiner linken Hand- ein schreckliches Anhängsel, das ich seit dem Unfall immer wieder unterbewusst tat, wenn der Stress mich übermannte.

Eine warme Hand legte sich beruhigend auf meine Schulter. Der Österreicher hatte den Abstand zwischen uns überbrückt und hockte nun neben meinem Putzkoffer. „Nur, dass du mich richtig verstehst: Ich glaube noch immer ungebrochen an euch beide, jedoch könnte ich es mehr als verstehen, wenn dir das alles über den Kopf wächst! Sollte das so sein, setze ich alles in Bewegung, dass ihr eher heute als morgen von hier weg seid! Die Show ist doch letztendlich vollkommen egal!" Dieses Mal waren es meine Augenbrauen, die sich fragend zusammen zogen. Würde er das wirklich machen? Es würde dem Ansehen des österreichischen Teams bestimmt schaden, wenn er mich einfach so abreisen lassen würde.

Als hätte er meine Sorge erraten, schlich sich nur ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. „Das würdest du dann aber mir überlassen! Keine überstürzen Abreisen ohne mein Wissen aufs Erste, okay?" Seine Hand drückte tröstend meine Schulter. Jedoch wandte sich mein Blick fragend zu meinem Pfleger, der mir allerdings aufmunternd zunickte. Auch er würde mir zur Seite stehen. Unerschütterlich.

„Abgemacht."

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