Kapitel 5

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"Du weißt es wirklich nicht, oder?", fragte Samuel sanft. Er war wie ausgewechselt, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, schluckte und erzählte: "Meine Eltern starben als ich sechs war. Stand recht groß in der Zeitung, war über ein halbes Jahr in den Medien. Eigentlich müsstest du es mitbekommen haben - das Mädchen, das ihre Eltern bei einer Bombenexplosion verlor und selbst ohne einen Kratzer davon kam." Ich musste kurz lachen. "Ich wäre lieber mit ihnen gestorben als jetzt dieses beschissene Leben zu führen."

Schweigen.

Ich starrte auf meine Nägel, an denen die dunkelblaue Farbe schon leicht absplitterte, dann fuhr ich fort.

"Sie waren nur an den Wochenenden zuhause, und selbst da mussten sie meistens arbeiten. Alles, was ich von ihnen wusste, wusste ich von meiner Tante, die sich stets um mich gekümmert hatte, sich aber zwei Monate nach dem Tod meiner Eltern selbst umgebracht hatte. Ihr Mann hatte sie betrogen und ihr zwei Töchter waren spurlos verschwunden. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, nicht mal an unsere alte Adresse, nur, dass wir ein ziemlich großes Haus hatten. Ich habe keine Ahnung woher die Familie Grashette stammt."

Wieder schweigen.

"Klingt ja nicht gerade nach einem tollen Leben.", flüsterte Samuel schließlich.

Ich raffte mich aus meiner Trance zusammen und realisierte, dass ich soeben einem fast-Fremden meine halbe Lebensgeschichte vors Gesicht geklatscht hatte.

Das hatte ich noch niemandem erzählt.

Niemals.

Niemandem.

"Nicht wirklich. Nein." Kurzerhand setzte ich mich auf, griff nach meiner Tasche und holte die Wodkaflasche heraus. Überrascht musterte Samuel mich.

"Ich spreche fast nie darüber. Wenn ich es tue, breche ich meistens zusammen. Also lieber den Zusammenbruch verhindern und die Gedanken runterspülen, nicht?", meinte ich und lächelte ihn an, dann nahm ich einen großen Schluck, ignorierte das inzwischen abgeschwächte, aber dennoch vorhandene Brennen in meinem Hals und lehnte mich zurück in den Sitz. "Du willst mich schließlich nicht heulend und zitternd auf dem Boden eines Zugs sehen, was?", lachte ich.

Er lächelte und starrte immer noch auf den Boden, wahrscheinlich musste er mein Gesagtes erst einmal verarbeiten. Ich tat es ihm gleich.

Schließlich riss er mich damit aus den Gedanken, dass er mir mit den Worten "Gib mal her." die Flasche aus der Hand nahm und selbst einen großzügigen Schluck nahm.

"Du bekommst das nie und nimmer in die Akademie rein.", sagte Samuel, worauf ich lachte. "Das werden wir ja sehen! Da ist noch 'ne Flasche drin. Abgeben werde ich die bestimmt nicht, das können die vergessen." "Ich sag du schaffst das nicht." "Wollen wir wetten?" Er schaute mich an. "Darauf kannst du Gift nehmen!" Wir grinsten uns an. "Der Gewinner bekommt die zweite Flasche.", forderte er. "Wie denn wenn sie mir abgenommen werden sollte?", lachte ich wieder und boxte ihn leicht. "Dann... zahlt man dem anderen eben mal eine." Ich nickte.

"Was ist eigentlich mit dir?", fragte ich mit einem Blick auf mein Handy, das einundzwanzig Uhr anzeigte."Hm?" "Woher kommst du?" "Ach. Ältester von fünf Söhnen und drei Töchtern der stinkreichen Familie Fiér, mit gefühlten dreihundert Verwandten die allesamt irgendwo im Parlament oder an sonstigen politisch einflussreichen Stellen überall auf der Welt arbeiten. Schwarzes Schaf der Familie, Raucher, Säufer, aber dafür das Mächtigste Licht. Bin mein ganzes Leben lang verwöhnt worden, bis auf die Bestrafungen für mein Verhalten. Meine Familie bedauert mein Verhalten zutiefst und schämt sich regelrecht für mich. Meine Mutter hatte mich ein mal gefragt, wie aus mir so ein Bastard werden konnte. Ich habe ihr eine Ohrfeige verpasst und gesagt, sie soll mich nie wieder so nennen, da sie genau wüsste, was das bedeutet. Darauf hat mein Vater mich verprügelt und mir das hier verpasst." Er zog seinen Ärmel hoch und deckte eine sechs Zentimeter lange Narbe auf. "Ich kam drei Tage nicht nach Hause. Seit ich auf die Akademie gehe und meine Familie nur noch ein mal im Jahr sehen muss, merke ich, wie Zuhause alle erleichtert sind. Als wäre ihnen eine Last abgenommen worden."

Wieder diese Stille.

"Woah.", entwich es mir. "Klingt auch nicht so toll." "Immer noch besser als bei dir."

"Sieben Geschwister, heilige Scheiße.", meinte ich schließlich, um ein wenig die Stimmung aufzulockern. "Glaub mir, es ist schlimmer als es klingt. Ich bin mit meinen siebzehn Jahren der älteste, gefolgt von Emilija, die sich regelmäßig bei mir ausheult weil ihr mal wieder irgend ein Arsch das Herz gebrochen hat, John und Jack, Zwillinge, die ihren Spaß daran haben mir harmlose Streiche zu spielen, Sophie, die mir mit ihrer Puppensammlung zeitweise ziemlich Angst macht, Danny und Xenia, die mir regelmäßig die Nerven zerschießen mit ihrem Gekreische, und dem kleinen Felix, der mir ständig am Bein hängt. Wortwörtlich. Und jetzt alle in einem Raum versammelt, und du siehst, wer die Arschkarte hat.", lächelte er. Kopfkino an, und ich verfiel einem Lachflash.

Feuerfunke *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt