Kapitel 6

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"Tja. Der große Bruder muss doch seiner Rolle als Zielscheibe für Angriffe gerecht werden.", lachte ich noch immer und kassierte dafür von Samuel einen Stoß in die Rippen. Wir sprachen noch ein paar Minuten über sein Familienchaos, bis ich plötzlich von einer erdrückenden Müdigkeit überwältigt wurde und schließlich mit dem Kopf auf Samuels Schulter einschlief.


Ein lautes "EEYY!" riss mich unsanft aus meinem Schlaf, der von dem unfassbar gut riechenden Geruch von Samuel begleitet worden war. Ich blinzelte ein paar Mal und schaute zur Tür, in der Marie und Marlon standen, Marie den Mund aufgerissen um wieder zu schreien, aber ich unterbrach sie: "Ja, ja, ist ja gut, sei still, ich bin wach!" Ich blickte nach rechts und bemerkte, dass Samuel hellwach war. "Wir sind in fünfzehn Minuten da.", meinte Marie und musterte uns belustigt. Hastig schaute ich auf meinem Handy nach der Uhrzeit, welches mir null Uhr zwanzig anzeigte. Wieder warf ich Samuel einen Blick zu und wurde von ihm angelächelt. "Gut geschlafen?", fragte er.

Ach du scheiße. Ich hatte doch nicht wirklich drei Stunden hier geschlafen während er mich beobachtet hatte.

Eigentlich war mir absolut nichts unangenehm, geschweige denn peinlich gewesen in meinem bisherigen Leben. Aber bei ihm war das irgendwie anders. So - normal. Als kannte ich ihn schon seit Jahren. Und das verwirte mich.

Ich schüttelte meine Gedanken ab und antwortete: "Ja, ziemlich." Dann schaute ich wieder zu Marie, die in der Zwischenzeit in das Abteil gekommen war und die auf dem Tisch stehende Flasche in die Hand nahm. "Das -", setzte ich an, wurde aber von ihr unterbrochen: "Das bekommst du nie und nimmer in die Akademie rein:" Ich stockte, während Samuel in schallendes Gelächter ausbrach. "Genau das habe ich ihr auch schon gesagt, aber sie wollte ja nicht hören!", lachte er, während mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. "Fünfzehn Minuten sagst du?", fragte ich Marie, welche mir zunickte und weiter mit Samuel über den Wodka diskutierte. Ich schnappte mir meinen Geldbeutel und stürmte drei Wagons weiter.

Im Boardrestaurant - ja, auch der Zug nach Reebourg hatte eines - kaufte ich mir drei Wasserflaschen und lief zurück zum Abteil. Mit einem "Hier, fang!", warf ich Samuel meinen Geldbeutel zu, welchen er etwas umständlich und überrascht auffing, dann trat ich in die Toilette am Ende des Gangs und schüttete das Wasser ins Waschbecken, sodass es schön brav absickerte.

Zurück im Abteil schmiss ich mich auf den gegenüberliegenden Platz von Samuel, schnappte mir die zwei Flaschen und füllte den Inhalt um. Wenn also niemand vorhatte, an meinen 'Wasserflaschen' zu riechen, müsste ich sie so problemlos in die Akademie bekommen.

"Hey, das ist cheaten!", entgegnete Marie. "Sagst du.", meinte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich fragte Samuel, ob er mir meinen Koffer von der Ablage holen könnte, dann verstaute ich die Flaschen darin und kurz darauf wurde der Zug auch schon langsamer und kam letztendlich mit einem lauten Pfeifen zum stehen.


Der Bahnhof war eigentlich ganz schön und wurde von großen, Elfenbeinfarbenen Laternen erleuchtet. Die teils noch verschlafen aussehenden Schüler tummelten sich auf dem kleinen Platz und bildeten kleine Gruppen bei bestimmten Laternen. Da diese Gruppen immer Schüler derselben Altersgruppe zeigten, schloss ich darauf, dass sie sich nach Klassen ordneten. Der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof, und Marie stupste mir auf die Schulter. "Schau mal.", sagte sie. Ich drehte mich in die Richtung, in der bis gerade noch der Zug stand, und musste augenblicklich den Atem anhalten.

Etwa zweihundert Meter auf einem Berg stand ein riesiges, majestätisch wirkendes Gebäude und wurde von den Lichtern aus den Zimmer erhellt. Obwohl es dunkel war erkannte ich die goldenen Dächer und die Gemäuer, bestehend aus Marmor und Sandstein, die von winzigen und detaillierten Akzenten geziert wurden. Es sah wirklich atemberaubend aus.

Der mittlere Teil der Front bildete eine Halbkugel, und wenn ich mich nicht täuschte, sah ich in einem der Fenster eine Gestalt stehen, welche ich aber nicht länger beachtete, sondern mich der Person widmete, die soeben zu den Schülern meiner Altersklasse getreten war. Eine relativ große Frau mit strohblonden Haaren, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte und nur vorne zwei Strähnen raushängen ließ, die ihr schmales, von einer großen Brille geziertes Gesicht umrahmten. Sie war relativ jung, ich schätzte sie auf Mitte zwanzig.

"Herzlich Willkommen, Schüler und Schülerinnen, an eurem fünften Jahr an der Reebourg Akademie. Ich bin Miss Helai. Es freut mich, so viele bekannte Gesichter zu sehen, aber auch ein paar Neue.", sprach sie auf Französisch und sah mich bei ihren letzten Worten eingängig an. "Ich werde euch gleich in die Akademie begleiten, zur jährlichen Willkommensansprache des Direktors, danach dürft ihr euch auf eure Zimmer begeben. Stellt eure Koffer bitte neben diese Laterne und folgt mir."

Automatisch stellte sich mein Gehirn auf Französisch ein. Während sie darauf wartete, dass wir unsere Koffer abstellten, fragte ich Marie: "Wie sollen die denn wissen, welcher Koffer wem gehört?" "Glaub mir, das wissen die.", sagte sie einfach und lächelte. Nachdem die Schüler bereit waren setzte die Lehrerin zum gehen an, blieb dann doch stehen und sagte: "Ach ja, eins noch. Eine gewisse -" Sie warf einen Blick auf einen Zettel in ihrer Hand, dann fuhr sie fort: "Gwendolyn Grashette? Soll bitte hier auf meinen Kollegen Herrn Farris warten." Verwundert sah ich mich um, erhielt ein paar zumutende Blicke von Samuel, Marie und Marlon, dann trat ich langsam neben Miss Helai, welche mir freundlich zunickte und dann mit den andren eine breite, ebenfalls weiße Brücke mit goldenem Geländer überquerte um auf die andere Seite zu gehen.

Auch die letzten drei Klassenstufen verließen den Platz, und auf einmal war es recht still. Ich fragte mich, was mich dazu brachte noch auf diesen Lehrer zu warten, da stand er auch schon vor mir und lächelte mich freundlich an. "Guten Abend Miss Grashette. Es freut mich, Sie kennen zu lernen.", meinte er mit einer sanften, beruhigenden Stimme. Auch er war noch nicht so alt, hatte dunkelbraune, nach hinten gegeelte Harre und gold-braune Augen, trug ein weißes Hemd, bei dem die ersten drei Knöpfe geöffnet waren, und eine beigefarbene Hose. Alles in Allem konnte er gut als Schüler durchgehen. Zudem sah er auch recht gut aus, das musste man ihm lassen. "Guten Abend.", erwiderte ich und lächelte zurück. "Miss Grashette, -" "Bitte, nennen Sie mich Gwendolyn.", entgegnete ich, auch wenn ich meinen Namen nicht leiden konnte. Jedoch konnte ich von einem Lehrer nicht verlangen, mich Wynn zu nennen.

Wieder lächelte er und fuhr fort: "Nun, Gwendolyn, du fragst dich sicher, weshalb man dich bat noch hier zu warten." Ich nickte, worauf er anfing mit auf dem Rücken verschränkten Händen in Richtung der Brücke zu schlendern, ich schloss mich ihm an . "Du musst wissen, das hier ist kein normales Internat. Die Schüler, die diese Akademie besuchen, sind besonders."

Sollte das etwa heißen, dass alle hier einen Totalschaden hatten? Oder einfach nur hochbegabt waren?

"Was meinen Sie damit?", fragte ich, und langsam beschlich mich das Gefühl, dass das keine Akademie, sondern eine Irrenanstalt war.

"Jeder hier hat besondere Fähigkeiten, genau wie du und ebenso deine Eltern." Augenblicklich blieb ich stehen. "Moment, Sie kannten meine Eltern?" "Jeder hier kennt sie. Genau wie dich.", entgegnete er als wäre es das normalste der Welt und lief einfach weiter. Wir waren auf der anderen Seite angekommen und begaben uns auf die Anhöhe zu dem Gebäude. "Die Explosion, oder?", fragte ich nach und fluchte bereits innerlich, da mich hundertprozentig die Meisten der Leute wieder seltsam verängstigt beäugen würden, so als wäre ich ein Monster oder so was. "In der Tat. Dir ist bewusst, dass du in hundert Stücke gefetzt werden solltest, oder?" Er sah mich an. Wieder nickte ich nur. "Hast du jemals darüber nachgedacht, wieso das nicht der Fall ist? Wieso die Explosion dir nichts angetan hat?"

Ich schwieg. Natürlich hatte ich darüber nachgedacht, aber ich war nie auf eine Antwort gestoßen.

"Die Welt, wie du sie kennst, hatte es sich nicht erklären können, hatte Angst vor dir. Wir hier wissen, wieso das so war."

Eindeutig Irrenanstalt. Nur, dass die Lehrer auch verrückt waren.

Feuerfunke *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt