Kapitel 20

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Kapitel 20

Der Wind wehte eine leichte Brise gegen meinen Körper, immer in harmonischer Weise, im Rhythmus, als wäre es eine Melodie. Alles war im Einklang für den Moment, auch wenn ich nicht in die Augen von Duhan sah. Ich saß stattdessen dicht bei ihm, spürte zwar nicht seine Wärme, aber sein Geruch stieg mir in dir Nase und ich hatte das Gefühl, dass ich Jahre lang so bleiben könnte.

Doch dann kam mir Kiraz in die Gedanken. Ich vermisste ihr Lächeln und schon entstand ein bedrückendes Gefühl in mir. Wie sehr sie litt, konnte ich natürlich nicht verstehen, aber auch wenn es etwas war, trug ich auch einen teil von ihrem Leid. Denn ihr Leid war mein Leid.

Plötzlich hatte ich eine Idee.
Mit einem Ruck drückte ich mich von der Bank und drehte mich um, sodass ich vor Duhan stand. »Warte kurz! Ich möchte dir jemanden vorstellen!«
Mit schnellen Schritten beeilte ich mich zu meinem Zimmer.

Kiraz lag auf ihrem im Bett, der Brief lag au ihrer Brust und das Foto neben ihrem Gesicht.
»Kiraz!«, rief ich ihren Namen und kicherte dabei extra, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sah zu mir und richtete sich auf.
»Willst du meinen secret lover kennenlernen?«, lachte ich und tat dann so, als wäre es mir nur rausgerutscht. »Ich meine natürlich Duhan!«
Sie kicherte und dieses altbekannte Grinsen lag in ihrem Gesicht. Ihre Augen funkelten und auch wenn es mir unangenehm war und ich es total bescheuert fand, hätte ich tausendmal mein "secret lover" zu Duhan gesagt, damit sie lächelt. Denn das war es wert.
»Ja klar!«, rief sie und schon stand sie bei mir.
»Aber du darfst ja nichts böses sagen«, tat ich so als würde ich sie ermahnen. Sie lachte wieder. »Ai ai, Captain.«
Wir liefen raus und als wir dann vor Duhan standen, deutete ich auf Kiraz und lächelte ihn an. »Das, Duhan, ist die wunderschönste im ganzen Land. Du hast jetzt die Ehre, sie kennenzulernen. Hier steht meine Kiraz.«
Duhan grinste auch. »Ich freue mich dich kennenzulernen, schönste im ganzen Land!«
»Dich auch, Duhan!«

Ich konnte zum ersten mal mit den beiden herumalbern, seit den Tod meiner Eltern. Das Leben ging weiter, ob man es wollte oder nicht und man sollte sich bemühen, das Beste daraus zu machen. Ich dachte ständig an den Brief, den ich Kiraz noch geben musste, hatte auch Angst dabei, dass sie wieder so traurig sein würde, aber es musste ja irgendwie sein. Es musste.

Wir drei liefen dann in die Gemeinschaftshalle. Kiraz lief vor uns. Ich lief dicht bei Duhan, der plötzlich gerufen wurde.
»Duhan!«, rief Edizs Stimme und ein Schauer lief meinen Rücken hinunter. Man kann weder für immer glücklich bleiben, noch für immer voller Kummer. Gerade war ich glücklich, doch jetzt bekam ich Angst, dass es Ediz kaputt machen würde. Ein breites Grinsen lag mitten in seinem Gesicht. Als Duhans Blick seinen traf, spuckten seine Augen Feuer.
»Du sollst zum Caput«, redete Ediz fröhlich weiter und ging in den Hof.
»Ich geh schon mal in mein Zimmer. Hab noch Hausaufgaben«, nuschelte Kiraz. Ich nickte und sie huschte weg.
»Dann begleite ich dich«, lächelte ich. Duhan nickte.

Wir liefen hoch und schwiegen dabei. An Duhans Gang merkte man noch, wie wütend er war. Er mochte Ediz wohl nicht, aber wer mochte den schon?

Als wir dann vor der Tür des Caput ankamen, traf mich der Schock. Neben dem Raum war nun eine Pinnwand mit einigen winzigen Informationen und einem wiedergeklebtem Zeitungsartikel. Der Bericht über meine Eltern, der meine Mutter als Mörder abstempelt. Ich hätte in dem Moment sterben können, als Duhan: »Sind das nicht deine Eltern?«, murmelte. Ich verdeckte den Bericht mit der Hand, sodass man nur den Titel lesen konnte, riss es aus der Hand, knüllte es wieder und war den Tränen nahe. Es war dasselbe Stüfk, welches gestern noch in der Mensa gelegen hatte. Der Einzige, der dessen Aufenthalt wusste, war Ediz und ich könnte ihn töten.

Ich presste meine Zahne fest aneinader, während ich die geknüllten Fetzen gegen die Wand presste und meinen Kopf zwischen meinen Armen hängen ließ. Am liebsten wäre ich im Boden verschwunden.
»Nevra, alles okay?«, fragte Duhan halb verwundert, halb geschockt.
»Ich- ich werde es erklären«, sagte ich und versuchte den ruhigen Ton beizubehalten. »Aber nicht jetzt. Nicht jetzt.«
Nun stand ich so nahe an den Tränen, dass ich mir auf die Lippe biss. Es tat verdammt weh.
»Ich- soll ich reingehen?«
Er hatte gemerkt, dass ich jetzt allein bleiben wollte. Ich nickte kaum merklich und er verschwand. Kurz darauf sah ich wieder den abartig grinsenden Ediz vor mir. Dieser Hund. Das war zu viel. Er konnte mich versuchen runter zu machen, wie er will, aber nicht mit meinen Eltern. Nicht mit ihnen.
War er wirklich so niveaulos?

Blanker Wut überkam mich. Ich konnte meinen Puls am Hals spüren und das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Ich zerdrückte den Artikel fester in meiner Hand und rannte dann den Flur hinunter. Den Artikel riss ich in viele Fetzen und schmiss sie in de vorbeikommenden Mülleimer, während ich zum Hof eilte.

Dort stand er auch schon. Mit stampfenden Schritten war ich schon bei ihm. Am liebsten würde ich ihm sein dämliches Grinsen wegreißen.
»Was sollte das?«, rief ich.
»Was denn, Schätzchen?«
»Du kannst dir dein Schätzchen sonst wohin stecken! Sag mir, was das sollte! Bist du ehrlich so niveaulos? Hä?«
»Hör dir an, was ich zu sagen habe.«
Seine Stimme klang jetzt ernst. Sein Grinsen war erloschen.
»Lass mich in Ruhe!«, zischte ich und blickte ihn missbilligend an. »Ich-«
»-Hör mir eine Sekunde zu.«
Ich schwieg. Auch wenn ich ihm am liebsten eine klatschen würde, meinte mein Instinkt, dass es besser sein würde.

»Nevra«, sprach er meinen Namen und holte etwas aus seiner Jackentasche. Einen Brief. Einen weiteren von Kirazs Mutter. »Ich glaube, du suchst so etwas, oder?«
»Gib das her!«
Er lachte wieder. »Auch wenn du es mir wegnehmen würdest, wer sagt dann, dass ich nicht gleich zu Lear gehe und sage, dass du die Briefe deiner kleinen Freundin gegeben hast? Ich glaube, das würde sie interessieren.«
»Du drohst mir?«
Okay. Noch tiefer konnte er nicht sinken.
»Jap und ich könnte dir sogar diesen Brief geben und dazu auch noch die Klappe halten.«
»Unter welcher Bedingung?«
»Jetzt verstehen wir uns.«
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.
»Du sollst mich deinen Freunden vorstellen, als deinen besten Freund und ab heute darf ich diese Rolle annehmen. Dein bester Freund, bleibe in deiner Nähe, du bist gut zu mir-«
»Was bringt dir das!?«

Er blieb eine Weile still. »Ich will nur eine Chance.«
»Und die bekommst du so?«
Ich war fast verzweifelt. Was sollte diese Show? Was war sein Ziel?
»Ich hab's nicht anders gesehen bekommen.«
Er ging an mir vorbei. »Du kannst es dir überlegen«, sagte er dabei.
Meine Gedanken schwirrten herum. Ich brauchte diesen Brief. Ich musste dafür sorgen, dass er die Klappe hält, nicht für mich, sondern für Kiraz.
"Ich hab's nicht anders gesehen bekommen", hallten seine Worte in meinem Ohr und ehe ich mich versah, hörte ich mich selbst: »Ediz, ich mache es!«, rufen!

Zum ersten mal sah ich ihn sein Gesicht umdrehen und ein umwerfendes Lächeln zuwerfen.
Aber nicht einmal dieses Lächeln sorgte dafür, dass ich ihn mehr mochte, denn ich hasste ihn, ich hasste ihn dafür, dass er meine Eltern so in den Dreck gezogen hatte und glaubte, mit mir spielen zu können.

In meinem Zimmer blickte ich zu Kiraz, die noch an ihren Hausaufgaben war.
»Kommst du klar?«, fragte ich sie, nur um nicht wieder an Ediz denken zu müssen und an Duhan und daran, dass ich am liebsten immer noch im Erdboden versinken würde.

»Ja«, sagte sie mit ihrer klangvollen Stimme. »Bin eh fertig.«
»Super«, lobte ich sie. »Du bist ziemlich flink.«
»Danke«
Sie schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln und es tat mir fast schon weh, weil ich wusste, dass es erloschen wird, wenn ich ihr den Brief gebe, aber dennoch tat ich es.
»Es gab noch einen. Aber ob es mehr gibt, weiß ich nicht«, erklärte ich ihr und gab ihr den ungeöffneten Brief. Sie lächelte kurz gequält und nahm es.
»Sei nicht traurig. Es gibt jemanden, der dich mehr liebt, als dein Leben. Ist das nicht schöner, als wenn sie dich hassen würde?«
Sie nickte. »Du hast Recht. Aber genau deshalb tut es mehr weh, dass sie weg ist.«
Kiraz drückte den Brief ihrer Mutter an ihre Brust. »Aber ich werde stark sein. Für sie und für mich. Das hab ich von dir gelernt.«

Ich sah sie verwirrt an. Von mir? Ich soll stark sein? Ich?
Ich blinzelte einige male, ging dann aber aus dem Zimmer, damit sie alleine bleiben und den Brief lesen konnte. Frische Luft, dachte ich sofort und begab mich raus. Der Wind war heftiger geworden und peitschte mein Haar durcheinander, als Duhans Stimme hinter mir klang.
»Geht es dir besser?«, fragte er mit seiner ruhigen wunderschönen Stimme.
Ich drehte mich zu ihm um. Jetzt war es Zeit, ihm über meine Eltern zu erzählen.

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt