Kapitel 47

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Kapitel 47

»Du hast eine Einladung bekommen?«, fragte er um sicher zu gehen. Ich blickte an ihm vorbei und dachte nach. Wenn das real wäre, wäre dann meine Welt heile? Ich würde zumindest nicht hier liegen und eine Halluzination anstarren und dessen Worten lauschen. Ich würde meine Kirsche suchen und Duhan würde mich unterstützen, selbst wenn er verlobt wäre. Aber könnte ich damit leben, er in den Armen einer anderen?

»Ja, aber ich weiß nicht mehr, was wahr oder was falsch ist«, sprach ich und sah ihn wieder an. Ihn, der mein Herz höher schlagen ließ. »Ich weiß nicht einmal, ob du real bist.«
  »Ich bin real, Nevra und ich bin hier. Sieh mich an. Sieh mich an! Ich habe dich gefunden, Nevra!«
  »Wie hast du mich gefunden?«

Er drückte die offene Hand zu, die auf dem Bettlaken lag und zog diese mit sich. Na, Halluzination, was war deine Antwort? »Durch- durch die Zeitung.«
  »Wie bist du hergekommen?«
Ich wollte nicht wissen, was darauf stand. Was sie über meine Mutter geschrieben hatten, war nie gut gewesen. Die Tochter würden sie nicht verschonen.
  »Ich bin eingebrochen. Genauso wie wir aus dem Waisenhaus geflohen sind«, antwortete er in seiner ruhigen kräftigen Stimme, die selbst bei behutsamen Worten klanghaft bei jedem Wort schwang. »Meine Mutter hatte immer gesagt, dass man an sein Ziel kommt, wenn man des Zieles willen alles tut.«

Nein. Das durfte ich nicht zulassen. Ich durfte ihm nicht wieder völlig verfallen. Dieses Loch war so groß und dunkel, da musste ich nicht noch tiefer fallen.
  »Ich wünsche dir und Nazan alles Glück der Welt«, meinte ich. Nehmt auch meins mit. Glück passte nicht mehr zu mir.

»Ich wünsche dir auch alles Glück der Welt, Nevra. Und du weißt, ich kann nicht glücklich sein, ohne dass du es bist. Du bedeutest mir viel«, hauchte er.
  »Ich kann nicht glücklich sein.«
  »Wieso nicht? Was ist mit dem happy End?«
  »Das happy End ist abgehauen, da wo ich dich und Kiraz verloren habe.«
  »Was ist mit Kirsche?«
Er sprang auf. »Ist sie nicht bei dir?«

Ich kämpfte gegen die Müdigkeit an, aber das Zeug, das sie mir gaben, raubte mir alle Kraft. »Sie ist weg.«
  »Ich werde sie finden.«
  »Wie du mich gefunden hast- als es zu spät war?«
  »Es ist für nichts zu spät, Nevra! Nevra!- Nevra.«

Ich fiel in einen Schlaf, der mich ins bodenlose mit sich zog.

»Du hast Besuch.«
Die Betreuerin lächelte sanft. Sie erinnerte mich an die Cour, obwohl sie ihr Gegenteil war, zumindest von außen. Ich stand auf und schleppte meine müden Beine mit mir.

»Nevra!«, rief Ediz, als er mich sah und fiel mir um den Hals. »Wie konnte das passieren?«
»Mahsun ist passiert«, antwortete Bechir, der auch gekommen war, wütend. »Du warst außer dir, Nevra. Aber er hätte dich nicht herbringen lassen dürfen.«
»Mahsun war das?«, fragte ich, obwohl nur das Sinn machte.
»Dieser Typ war mir von Anfang an nicht geheuer«, erwiderte Ediz und löste sich von der Umarmung.

»Wieso hast du mich dann mit ihm allein gelassen?«, stellte ich die Frage, die mir am Herzen lag. »Wo warst du so lange? Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe!«
»Tut mir leid«, nuschelte er und kratzte sich am Kopf. »Ich wollte nicht zurückkommen, bevor alles geklärt ist. Ich wollte nicht dien zerbrochenes Gesicht, sondern dein glückliches sehen.«

Ich seufzte. »Du hast ja recht.«
Ediz grinste. »Rate, wen ich gefunden habe?«
Er klatschte mit den Händen. »Du kannst reinkommen!«

Als meine Kirsche den Raum betrat, bekam ich Tränen in den Augen. In meiner Brust war ein Knoten, der sich lockerte und ich hatte das Gefühl atmen zu können. Die Gefühle übermannten mich und ich schluchzte, während ich sie in die Arme nahm. Sie war so wunderschön!

»Wo warst du bloß?«, fragte ich und ich bezweifelte, dass sie meine muscheligen Worte verstand.
»Bei meinem Vater«, sprach sie und da sah ich sie geschockt an. »Bitte was? Bein deinem Vater?«
Sie nickte. »Er hatte meine Mutter verlassen. Er wusste zwar nicht, dass sie schwanger war, aber er hat sie verlassen. Und diesen Mann, dachte ich, werde ich niemals verzeihen können. Aber dann hab ich in ihm den Mann gesehen, in den meine Mutter verliebt war. Er hat mich um eine Chance gebeten und ich wollte sie ihm nicht geben. Er hat es so krass versucht- und dann«, sie schielte unauffällig zu Ediz. »Musste ich an eine andere Person denken, die Fehler begangen hat und bei der ich dankbar bin, ihr verziehen zu haben.«

Ediz checkte mal wieder nichts, aber als Kiraz rot wurde, fragte er, was los sei.
»Danke Ediz«, lenkte ich ihn ab. »Du hast mir echt aufs extremste geholfen. Wie sehr ich meine Kirsche vermisst habe.«

Ich nahm sie wieder in die Arme und wollte sie nie wieder verlassen. Doch es gab immer einen Abschied.
»Ich werde dich hier rausholen, Nevra«, versprach mir Bechir. Diesem Mann schuldete ich so viel.

Ich musste meinen Psychiater meine Sicht des Streites erläutern. Ich erzählte, dass ich nichts damit zutun hatte. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt.
Er nickte und notierte sich einige Dinge. Auf seine Fragen versuchte ich positiv zu antworten. Ich erzählte ihm von meiner Kirsche und davon, dass mich ein Leben hinter diesen Mauern erwartete und ich glaubte, dass dies ihn am meisten überzeugte.

Bechir würde mich rausholen. Nur daran dachte ich und den Rest blendete ich aus. Selbst, dass Duhan hier war oder dass mir mein Inneres ein Trickspiel gespielt hatte, versuchte ich zu verdrängen. Aber wenn es bloß ein Trickspiel war, wieso leugnete er meine Wahrheit?

Das auffällige war, dass Mahsun nicht einmal gekommen war. Vielleicht hatte er mich satt. Vielleicht hatte er gemerkt, wie gestört ich war.

»Sie können hier nicht rein!«, hörte ich plötzlich eine der Betreuerinnen rufen.
»Ich muss, sie wartet auf mich!«
Diese Stimme.
»Duhan!«, rief ich ohne darüber nachzudenken. Ich rannte zur Tür und versuchte die Klinke hinunter zu drücken. Sie war zu.
»Kommen Sie in den Besuchszeiten wieder.«
»Ist das ein Gefängnis, oder was?«
»Nein, aber hier gibt es Regeln.«
»Die gibt es da, wo ich arbeite auch, ich konnte nicht früher kommen. Lassen Sie mich fünf Minuten zu ihr, nur fünf.«
»Tut mir leid.«
»Ich will sie nur sehen, eine Sekunde.«

Danach war nichts mehr zu hören. Das, das konnte nicht Einbildung sein. Das war Duhan, mein Duhan. Das war der mit den braunen beruhigenden Augen und der Stimme, die mich entspannen ließ und dessen Lächeln mein Herz zum beben brachte. Ganz sicher.

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt