Kapitel 28

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Sehnsucht
Ge. 05- Kapitel 28

»Du kleines Miststück«, zischte Firuze voller Abneigung und trat mit voller Wucht gegen meinen Bauch. Ich biss die Zähne vor Schmerz zusammen, da folgte auch der nächste Tritt.
»Du hast dich mit Firuze angelegt! Du wirst büßen! Du wirst mich anflehen, dass ich dich in Ruhe lasse!«
Noch ein Tritt, dieses mal direkt gegen meine Brust. Ich krallte meine Finger an den Boden, krümmte mich vor Schmerz und konnte kaum atmen. Sie trat wieder und wieder- gegen meinen Bauch, meinen Magen, meine Brust, meinen Hals, dann hockte sie sich zu mich und boxte mir mit voller Kraft gegen das Gesicht. Ich konnte nicht schreien, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, schwer zu atmen. Alles tat mir weh. Der Schmerz bohrte sich bis in die Fingerspitzen. Ich bereute es, dass ich nicht von Anfang an geschrieen hatte, denn jetzt konnte ich es vergessen. Ich brachte ja nicht einmal ein Laut heraus. Sie schlug wieder gegen mein Gesicht und da spürte ich eine warme dicke Flüssigkeit meine Nase hinunter kriechen. Es war so qualvoll, kaum verlor ich das Bewusstsein, da stoppte sie plötzlich.

»Wie kannst du es wagen!«
Die Stimme von Miss Lear kroch in mein Ohr. Sie kam auf mich zu und half mir hoch, was ich seltsam fand. Was interessierte es sie überhaupt, ob ich lebte oder starb? Es war doch besser so. Eine Sorge weniger.
Miss Lear schimpfte mit Firuze und schwor ihr, dass es schwere Nachwirkungen haben wird. Dabei brachte sie mich ins Krankenzimmer, wo ich mein Bewusstsein vollkommen verlor.

Als ich aufwachte, lag ich im Krankenzimmer und Kiraz saß neben mir.
»Geht es dir besser?«, fragte sie voller Sorge. Ich richtete mich auf und bekam da unangenehme Kopfschmerzen. »Ah«, stöhnte ich, weil es weh tat. Ich hatte Blutergüsse bekommen. Das spürte ich schon.
»Wie lange liege ich schon hier?«, fragte ich, anstatt Kiraz zu antworten.
»Ich glaub 'ne Stunde.«
»Hat Firuze Ärger bekommen?«
Ich glaubte, dass sie eher eine Goldmedaille dafür gekriegt hatte.
»Aber sowas von. Sie putzt gerade die Toiletten. Danach soll sie den Flur wischen, die Mensaaufgabe von heute abnehmen und dazu noch den Müll vom Hof picken. Miss Lear hat ihr gedroht, dass sie Firuze in 'ne Anstalt schickt, wenn sowas wieder passiert und dann meinte sie noch, dass sie morgen auch eine Liste voller Aufgaben kriegt.«
»Was?«
»Ja, ich dachte auch zuerst, dass es ein Scherz sei, aber es scheint, als wäre es nicht so.«

»Ach! Du bist aufgewacht!«
Miss Lear hatte den Raum betreten und sah mich mit einem breiten Lächeln an. »Könntest du uns bitte kurz allein lassen, Kiraz?«
Kiraz sah zu mir und ich nickte, denn wenn sie nicht gehen würde, würde sie sie mit Gewalt wegbringen.
»Geht es dir schon besser?«, fragte mich Miss Lear gespielt besorgt. »Es tut mir wirklich inständig leid, dass du so etwas erleben musstest. Firuze kriegt auch ihre rechtmäßige Strafe.«
Die Tür knallte hinter Kiraz zu, als ich antwortete. »Was interessiert es sie, wie ich mich fühle. Wir brauchen uns nicht anlügen. Ich sehe es sowieso in ihren Augen.«
»Nevra! Nevra! Bitte! Du hast mich total falsch eingeschätzt. Ich bin kein schlechter Mensch!«
»Sie haben mir erst letzten gedroht.«
»Wahrscheinlich hast du das falsch verstanden.«
Wahrscheinlich sollte ich ihnen eine klatschen. »Geht es ihnen schlecht, Miss Lear oder wieso reden sie solch einen Mist?«
»Zügeln sie ihre Zunge, Nevra! Ich möchte keine Anschuldigungen mehr hören. Wenn sie etwas brauchen, bin ich in meinem Zimmer.«
Sie lief vom anderen Ausgang aus dem Raum. Ich stöhnte und stand dabei auf. Was war bloß mit dieser Frau passiert? Hatte die eine Gehirnwäsche abbekommen? Ein weitere Gedanke streifte durch meinen Kopf. Oder sie wusste vom Geld Bescheid.
Panik packe mich. Wenn sie davon wusste, dann sicherlich auch mein Onkel.

Mit verschwitzter Hand packte ich die Türklinke, weil ich Kiraz wieder reinholen wollte, falls sie nicht gegangen war, drückte sie langsam und öffnete die Tür. Die Tür war seitlich vom Flur, und Kiraz stand mit dem Rücken zu meiner Seite, sodass sie mich nicht sah. Vor ihr stand jedoch noch jemand, der mich ebenfalls nicht gesehen hatte.

»Du kannst da nicht rein!«, ertönte Kirazs Stimme scharf.
»Und warum nicht?«
Es war definitiv Edizs Stimme.
»Weil dich Nevra nicht sehen will.«
»Was lügst du rum?«
»Ediz, verschwinde von hier!«
Sie verschränkte ihre Arme.
»Ich weiß, ich weiß, du willst nicht, dass ich zu Nevra gehe und sie sich unsterblich in mich verliebt, weil du mich für dich allein haben willst, aber ich stehe ehrlich nicht auf Kinder«, lachte Ediz und ich konnte sein Grinsen schon vor meinen Augen sehen.
»Spinnst du oder so? Am liebsten hätte ich es, dass du stirbst!«, protestierte meine Kirsche.
»Jetzt kommst du also an mit "ya benimsin yada kara topragin"?! (Entweder gehörst du mir oder unter die Erde!?)«
»Du widerst mich so an!«, entgegnete Kiraz. »Möge Allah mir Geduld geben!«
»Damit du nicht an Liebeskummer stirbst?«
»Ediz!«, drohte sie ihm.
»Okay okay, ich halte die Klappe, aber nur wenn du mich reinlässt.«

Genau da trat ich vor. Edizs Gesicht hellte sich auf. »Hi Nevra!«
»Ich finde, du solltest zu Firuze! Sie ist wahrscheinlich die einzige Person, die dich leiden kann«, plapperte ich und lief zu Kiraz.
»Firuze? Bah, ich leide doch nicht an so schlimmen Geschmacksverirrungen, dass ich was mit 'ner Schwarzhaarigen hab.«
Dabei sah er kurz zu Kiraz und ihrem schwarzen Haar und machte ein angewidertes Gesicht. »Die sind alle gleich, alle frech und ungehalten.«
»Dann erklär Firuze irgendwie, dass du sie nicht leiden kannst. Sie soll mich in Ruhe lassen«, sprach ich wütend, nahm Kirazs Hand und wollte gehen.
»Sie war das?«, stieß Ediz hervor.
»Wer denn sonst«, zischte ich und lief weg. Währenddessen presste ich meine Zähne fest zusammen, weil ich noch Schmerzen hatte.
»Ich hasse ihn«, fauchte Kiraz, als wir den Weg zur Mensa einschlugen, weil es Mittagessen gab. »Was bildet sich der überhaupt ein!?«
»Der ist krank. Psychisch krank.«
»Das ist untertrieben«, erwiderte sie sofort und stampfte zur Mensa. Wir setzen uns an unseren Platz und beobachteten, wie es immer voller wurde. Es gab Omelettes zu Mittag mit Brot.

Mit den Augen suchte ich beim Essen nach Duhan, denn ich war neugierig, ob er nur im Zimmer hockte, wie ich damals. Es tat weh, daran zu denken und als ich merkte, dass er nicht da war, spürte ich einen Stich.

Miss Lear hatte sich wieder vorne aufgestellt und bat um Ruhe. Sie wollte wahrscheinlich einer ihrer dummen autoritären Reden halten, die keinerlei Wert hatten. »Ich wollte nur eine kurze Durchsage machen! Die Regeln der Trennung zwischen Jungen und Mädchen wurde aufgehoben. Ihr dürft euch wieder frei außerhalb der Trakte bewegen. Danke für euer Gehör!«

Was war denn jetzt los? Wieso sollte das denn jetzt passieren? Was hatte sie davon? Die Lage verwirrte mich ungelogen, denn ihr Verhalten war mehr als nur komisch. Zuerst war sie auffallend nett zu mir und jetzt das? Ob sie von der Regierung oder so angesprochen wurde? Aber weshalb?
»Das klingt sehr auffällig«, meinte Kiraz. Sie hatte sowas von Recht. »Wer weiß, was wirklich dahinter steckt.«
Miss Lear ging weg und ich begann zu tüfteln. Konnte es wirklich sein, dass sie davon wusste? Hätte Bechir mich nicht gewarnt? Ich aß noch den Rest von meinem Essen, wobei ich grübelte.

»Weißt du was, Nevra, am liebsten würde ich alle Regeln verstoßen und das tun, was mir gefällt. Ich bin keine Marionette. Ehrlich, die übertreiben.«
Die Wut in ihren Augen entfachte sich, erlosch dann jedoch sofort. »Aber das können wir uns nicht leisten. Sie haben Recht. Unsere Zukunft liegt in ihren Händen.«
Kiraz wusste nichts von dem Geld, dass ich geerbt hatte und bekommen würde, sobald ich achtzehn war. Keiner wusste davon, außer ich und Bechir, zumindest wenn es niemand anderes erfahren hatte. Es war also normal, dass sie sich Gedanken um ihre Zukunft machte.

Ich grinste. »Lass uns heute Nacht abhauen«, flüsterte ich ihr zu. »Du, ich und Duhan. Wir können mal etwas anderes tun, als in unserem Zimmer zu hocken.«
Sie grinste und ich sah das Funkeln in ihren Augen. Stimmt ja. Duhan und ich kannten die Welt dort Draußen von früher, Kiraz nur dadurch, dass sie in die Schule geht und durch Ausflügen, wenn mal welche stattfanden.
»Versprochen?«, fragte sie und grinste breiter den je.
»Versprochen«, versicherte ich ihr. Jetzt musste ich nur noch mit Duhan darüber reden.

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt