Kapitel 24

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Kapitel 24

Zuerst hing mein Blick bei Firuze und ihrem bis zu den Ohren breiten Grinsen. Ihre Augen sprachen Bänder. "Ich habe dir doch gesagt, du würdest es büßen!", riefen sie regelrecht. Ich war überrascht, denn nicht im geringsten hätte ich gedacht, dass sie zu so etwas in der Lage war. Dann wanderte mein Blick zu Miss Cour und erst dann realisierte ich wirklich, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Ich war wieder erwischt worden, aber dieses mal würde es ganz andere Konsequenzen geben. Das hatte ich im Gefühl.

»Ihr seid in der Ruhezeit außerhalb eurer Zimmer, ist das euch bewusst?«, redete Miss Cour sofort auf uns ein. Ich hörte ihr nicht richtig zu, eher war ich in einer Trane und verstand nicht, wie wir immer erwischt werden konnten. Ich war kein Glücksbringer für Duhan, eher ein Pechsbringer. Er war doch früher auch schon oft rausgegangen und wurde er erwischt? Nein.
Mit mir? Ja.

»Ihr werdet es büßen. Euren ganzen Sonntag könnt ihr mit Strafen verbringen! Ich will euch schon nach dem Frühstück in meinem Büro sehen! Und jetzt ab in eure Zimmer.«
Ich nickte, blickte dabei nicht zu Duhan und lief rein, da lachte Miss Cour aber wieder und richtete sich zu mir. »Ich glaube, du solltest zum Caput, Çolak. Ansonsten könnte das noch Konsequenzen haben.«
Shit.

Ich lief vorsichtig hoch und bekam leichte Panik, als ich das Caput betrat.

»Ah, Nevra. Setz dich doch.«
Die Freundlichkeit von Miss Lear konnte nichts Gutes heißen. Langsam setzte ich mich auf den Stuhl und wartete, bis sie weiter sprach.
»Du fragst dich sicher, warum ich dich hergeholt habe.«
Ich blinzelte. War es etwa nicht wegen der Ruhezeit?

»Neva, ich möchte nicht um den heißen Brei reden. Es wir Zeit. Du kennst doch die Siuzid-Liste, die wir angefertigt haben, damit wir den Leuten hier helfen können.«
Sie meinte die Liste mit den Vermutungen, wer selbstmordgefährdet sein könnte, damit man das prüfen konnte und diesen Leuten helfen kann, bevor sie wie Selena enden oder sogar noch schlimmer. Ich nickte.
»Gut, ich könnte nämlich ganz einfach dafür sorgen, dass jemand darein gerät und dass man wirklich denkt, er müsse in die Anstalt.«
»Ist das eine Bedrohung an mich?«, sprudelte es aus mir heraus. Das konnte doch nicht ihr ernst sein.
»Ach, mach dir keine Gedanken. Ich weiß, dass du den Grips dazu hättest, das Gegenteil zu beweisen. Um dein Leben brauchst du dir keine Sorgen machen, aber da ist doch ein liebes kleines armseliges Mädchen in deinem Zimmer- du und ich wissen ganz genau, dass es ein Einfaches wäre, die Leute glauben zu passen, Kiraz sei Suizid gefährdet.«
»Was?«
»Ganz genau. Das Leben von ihr hängt am seidenen Faden und du kannst sie retten. Du musst mir bloß dieses verdammte Bild deiner Eltern geben, dass du geklaut hast und gut ist.«
Ich war schockiert.

»Ah, vergiss nicht, auch wenn es Kirazs geistigem Zustand gut gehen würde, würde sich das ändern, wenn sie erst einmal eine Weile dort war.«
»Das ist ungerecht!«
»Wer entscheidet denn hier was gerecht und was ungerecht ist?«
»Ganz bestimmt nicht sie«, zischte ich wütend. »Ich habe das Bild nicht! Und was wenn? Was nützt es ihnen? Was bringt es?«
Miss Lear lehnte sich weiter auf den Tisch, sodass sie mir näher kam. »Ich möchte Ordnung. Ich möchte Disziplin. Ich möchte Gehorsamkeit!«
»Was hat das damit zutun?«
»Ich will, dass du gehorsam bist und dich nicht gegen unsere Regeln stellst, ansonsten wirst du das büßen müssen. Anders kann man es dir wohl nicht erklären.«
Büßen. Büßen. Büßen. Kannten die Leute hier denn kein anderes Wort?
»Das ist ungerecht!«, warf ich wieder ein.
»Ja«, lachte Miss Lear. »Ja, das ist es wohl.«

»Wieso hassen sie mich?«, fragte ich. Meine Stimme klang schon leicht verzweifelt.
»Ich hasse dich nicht«, lachte Miss Lear. »Wenn ich dich hassen würde, würdest du dich umbringen wollen. Du würdest es nicht ertragen.«
Ihr Lachen verstärkte sich. »Besser wäre es, wenn du dafür sorgst, dass ich dich nicht hasse, sonst landest du in der Anstalt, wie sonst Mancher auch.«
Wie sonst Mancher auch. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen, weil ich erst jetzt Begriff, Miss Lear hatte Selena gehasst und sie hatte es sogar bis dorthin getrieben, dass das arme Mädchen sich umbringen wollte. Nur was waren ihre Methoden? Was hatte sie getan, dass sich jemand wirklich hatte das Leben nehmen wollen?
Das letzte Stückchen Hoffnung, dass man hatte?

Ich versuchte etwas herauszubekommen, aber es klappte einfach nicht. Meine Panik stieg und ich wurde nur verwirrter.
»Du brauchst nichts zu sagen. Du musst nur wissen. Deine Zeit, das Bild zu bringen, beträgt bis zum Mittagessen am nächsten Morgen. Du hast die Wahl. Glaub mir. Kiraz in die Anstalt zu bringen, wäre ein Kinderspiel. Und jetzt solltest du gehen.«
Sie lächelte, als sei es eine gute Nachricht gewesen. Mein Stichwort, ich stand auf und lief aus dem Caput.

Die Ansage war klar und es gab kein Zurück. Natürlich war es mir wichtiger, dass Kiraz heile war, aber die Reaktion von Miss Lear hatte mich geschockt. Es war bloß ein Bild!

Als ich dann wieder in meinem Zimmer war, traf mich erneut ein Schock.
»Sie haben wieder alle Zimmer durchsucht«, erklärte Kiraz mir.
»Sind die krank!?«, fragte ich, obwohl das wirklich eine dumme Frage war. Nach all dem musste ich doch wissen, dass sie krank waren.
»Ich krieg bald einen Nervenzusammenbruch«, meinte Kiraz und ließ sich darauf auf ihr Bett fallen. »Können wir das erst morgen wieder sauber machen? Ich bin zu müde.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Das wäre besser.«

In dieser Nacht schlief ich schwer ein und der Tag brachte viel zu schnell ein. Noch im Halbschlaf zog ich mich an und bereitete mich auf den schlimmen Tag vor. Strafarbeit war angesagt, aber wenigstens könnte ich mein Frühstück genießen, wenn überhaupt.

Duhan setzte sich wieder weit weg von mir und ich hatte den Drang mit ihm zu reden, auch wenn ich es nicht wollte. Er hatte genug Probleme, aber mit wem sollte ich sonst reden?
Mit Kiraz? Nein, sie würde sich schuldig fühlen und das Briefproblem hat sie auch noch.
Mit Mirabelle? Nein, sie war sehr nett und sie hatte sich schon einmal um uns gesorgt. Noch ein zweites Mal wollte ich sie nicht für unsere Taten strafen lassen.
Mit Ediz? Allein der Gedanke war lachhaft.

Ediz hatte sich vor mich gesetzt, während Kiraz neben mir saß.
»Ihr scheint heute nicht so glücklich zu sein«, merkte er.
»Ich geh mir was zu trinken holen«, ging Kiraz nicht auf ihn ein und stand auf.
»Hey, haben sie auch eure Zimmer durchsucht?«, fragte Ediz. Er schien dieses mal nicht sein dämliches Lachen oder Grinsen zu haben und sah sogar ernst aus. Hunger hatte er wohl auch nicht. Sein Tablett war fast leer. Nur ein Apfel stand dort und etwas zu trinken.
»Ja, haben sie.«
»Sie werden es heute sicher nicht wieder versuchen, deshalb glaube ich, dass du das hier haben kannst.«
Er reichte mir unter dem Tisch den Brief von Kiraz. Ich nahm ihn vorsichtig.
»Haben sie es dir nicht weggenommen?«, fragte ich erstaunt.
Er lachte. »Es ist nicht so leicht, mir etwas wegzunehmen. Ich bin schlauer als sie.«
Ich war wirklich erstaunt. »Die anderen Briefe-«
»-Sind in Sicherheit«, unterbrach er mich und das war es, was mich am meisten schockte.
»Du wusstest davon Bescheid?«
»Hab die beiden es besprechen hören, sie wollten dich auch zum Caput holen, um dir 'nen Vorschlag zu machen oder so. Sei vorsichtig.«
Ich erkannte Ediz gar nicht wieder. Wenn das ein Schauspiel war, beherrschte er es zu gut.

Da kam Kiraz wieder. Ich überreichte den Brie ihr und sie sah mich zuerst verdutzt an. Dann knickte sie es und steckte es sich in die Hosentasche.

»Ich möchte eine kurze Ansage machen!«, rief Miss Lear vorne und Miss Cour stand dicht bei ihr.
Ediz hatte sich sofort umgedreht seinen Blick zu ihnen gerichtet. Während Kiraz noch etwas trank und auch nach vorne sah. Erst da bemerkte ich, dass sie von meinem Glas getrunken hatte. Das machte aber nichts, weil ich sowieso nichts daraus getrunken hatte.
Ich stellte extra ihr Glas zu mir, damit sie es nicht merkte.

»Also!«, rief Miss Lear und ihr gehörte plötzlich alle Aufmerksamkeit. »Ihr alle wisst von dem schrecklichen Vorfall von Selena, einer früheren Mitbewohnerin unseres Heimes. Es wurde festgestellt, dass sie schwanger war.«
Getuschel. Überall wurde leise getuschelt. Aus meinem Mund kam kein Laut. Ich starrte nur nach vorne und fragte mich innerlich, welcher Schock mich denn wohl als nächstes erwartet.
»Deswegen haben wir beschlossen, festere Maßnahmen zu stellen! Ab heute gilt folgende Regel! Es werden Hofzeiten für Jungen und Mädchen gestellt, die rechte Mensaseite wird für die Jungen und die linke für die Mädchen gelten. Jungen und Mädchen sollen nicht miteinander reden und Abstand voneinander halten! Wer die Regeln nicht einhält, wird bestraft.«
»Will die, dass wie Asozial werden?«, hörte ich Ediz zischen. Ich spürte Miss Cours Blick fest an mir hängen und dann langsam zu Duhan gleiten, als wolle sie etwas andeuten.

Selena ist schwanger. War das der Grund, weshalb sie sich töten wollte? Oder doch Miss Lear?

Der SehnsuchtsfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt