Kapitel 10
»Deine Mutter?«, wiederholte ich und sah ihn fragend an. Was könnte denn mit seiner Mutter sein? War sie noch am Leben? Wenn ja, wieso war er dann überhaupt hier?
Er nickte und sah mich dabei mehr als ernst an. »Ich muss hier raus.«
»Weshalb? Duhan, erzähl doch nicht alles in Bruchstücken.«
»Ich frage mich, ob ich dir überhaupt etwas sagen sollte.«
Ich biss die Zähne fest zusammen. Wieso musste er Mal so Mal so sein? Wieso musste er mich so verwirren?
»Ja«, meinte ich in einem ruhigen und leisen Ton. »Vielleicht solltest du das nicht.«
Für eine kurze Zeit herrschte Stille. Ich sah nur zu meinen Händen, auf denen noch die Spur der Erde lag. Erde. Der Geruch der Erde war etwas so schönes. Die Erde war so etwas wunderbares. Wir waren alle von der Erde gekommen und würden wieder dorthin zurückkehren. »Danke, dass du mir geholfen hast«, bedankte ich mich bei ihm mit einer piepsigen Stimme,
»Was?«, fragte er, als ich wieder zu ihm hochsah.
»Das Foto.«
»Ist doch nicht der Rede wert.«
»Für mich schon. Es ist das letzte, was ich von ihnen habe.«
Ich wusste nicht warum, aber ich bekam sofort glasige Augen. Sofort versuchte ich sie zu unterdrücken, was dazu führte, dass meine Brust sich verengte. »Ich kann ja nicht einmal zu ihren Gräbern.«
Ich fühlte mich erbärmlich, weil nichts in meiner Hand lag. Dieses Gefühl würde mich noch mein ganzes Leben verfolgen.
Es gab wahrscheinlich niemanden, der für meine Eltern Blumen einpflanzte, den Platz sauber hielt und durch ihre Erde strich. Ich biss mir wieder auf die Lippe, was mir höllisch weh tat, da die Wunden immer noch frisch waren.»So meinte ich das nicht«, entschuldigte er sich. »Es ist natürlich nichts unbedeutendes.«
Ich nickte, aber es kam mir einfach nichts aus dem Mund.
»Meine Mutter lebt noch.«
Sanft und ruhig klang seine Stimme und doch mit einer bitteren Trauer, die mich hätte umgehauen, wäre ich nicht auch noch zu sehr damit beschäftigt, meinen eigenen Kummer runter zu schlucken.
»Aber sie kann nicht für mich sorgen. Das haben sie zumindest gesagt. Deshalb bin ich hier.«
Sein stechender Blick verursachte eine Düsternis in mir. Ich hatte das Bedürfnis sein Leid wegzunehmen. Seine Augen sahen gebannt zu meinen, wie Magnete. »Sie- sie ist im Krankenhaus und braucht eine dringende Operation. Ich bin der, der für sie sorgen muss, aber verdammt noch einmal, ich kann nicht, ich bin hier gefesselt, während sie da um ihr Leben kämpft. Jeden Tag wird es schlimmer und ich stehe hier nur herum. Sie braucht diese Operation so dringend. So dringend.«Ich sah, wie seine Augen glasig wurden, nur ein Stück, dann waren sie wieder normal. Er hatte wohl gelernt, es zu unterdrücken, es zu verbergen. Ich fühlte mich zum ersten mal verstanden. Es war, als würde es ein Band geben, welches uns verband und ich spürte, die Erleichterung, die er für den Moment verspürte, weil er endlich darüber gesprochen hatte.
»Verstehst du, warum ich jetzt weg muss? Ich muss etwas tun. Irgendetwas. Mindestens bei ihr bleiben.«
Er zischte es, denn ansonsten würde er in Tränen ausbrechen. Ich nickte nur, um zu zeigen, dass ich verstehen konnte.
»Ich muss hier raus«, sagte er eher zu sich, als zu mir.
»Ich auch«, brachte ich brüchig hervor, wobei er mich sofort geschockt ansah.
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Der Sehnsuchtsfall
RomanceSie ist an einem Ort, an dem die Wunden heilen sollen. An einem Ort, wo sich abgebrochene Zweige versammeln und ein neues Gerüst bilden. Wo Trost gespendet und ein neues Leben angefangen wird. So heißt es, aber so war es nie. Das merkt Nevra selbst...