Kapitel 54
Wir saßen in einem Café nahe des Waisenhauses. Es war so klein hier, dass ich es vorher nie bemerkt hatte.
Narin starrte nur auf ihren Kaffee. »Seit ich weiß, dass ich schwanger bin, will ich dieses Kind loswerden. Es ist ein Fluch für mich. Ich dachte, ich könnte es verstecken, vielleicht unbemerkt gebären und dann loswerden, weil ich nicht den Mumm habe, es abzutreiben. Als hätte ich das Leben meines Babys so gerettet. Aber je mehr es wächst, desto weniger will ich es abgeben. Es ist mein Baby. Es gehört zu mir, Nevra. Was soll ich bloß tun? Ich habe noch mein ganzes Leben vor mir!«
»Geht das eigentlich?«, fragte ich, weil wir ich nicht genau wusste, wie ich anfangen sollte. »Heutzutage ein Kind vor ein Waisenhaus zu legen? Ein Kind wird doch immer sofort registriert.«
»Nicht, wenn man das Kind nicht im Krankenhaus geboren hat.«
Sie klang erschöpft.Ich konnte das alles nicht glauben. Es war doch wohl kein Monat her, als ich sie das letzte mal gesehen hatte und da hatte sie keinen Bauch- nichts. Es gab ja kein Anzeichen auf ihre Schwangerschaft. Das war gar nicht möglich. Selbst jetzt, wo sie lockere Kleidung trug, fiel einem kaum etwa auf. Man könnte sagen, sie hätte ein wenig zugenommen. Aber dass sie schwanger war, niemals. »Und... das Kind, von wem ist es?«
Die Frage, die sie quälte und mir auf der Zunge brannte.Sie atmete tief ein und aus, als ob sie jedes Wort umbrachte. »Ich- ich war schon in Mahsun verliebt, da war ich in der achten Klasse.«
»Oh Gott!«
»Kannst du dich an die Party von Berkan erinnern? Ich hab es ihm dort gestanden und er hat darüber gelacht. Ich weiß dann von dem Abend nur noch, dass ich eine Menge getrunken habe und am ende bin ich in einem Hotel bei ihm aufgestanden. Kannst dir den Rest ja denken. Aber als er aufgewacht war, meinte er, er würde eine andere lieben. Seitdem hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich schwanger werde. Ist das zu fassen? Es gibt Schlampen, die jeden Tag in verschiedenen Betten sind, die nicht schwanger werden oder Ehepaare, die es Jahre versuchen und ich?«Narin sah aus dem Fenster. Sie konnte mir nicht mehr in die Augen sehen. Währenddessen fielen ihr mehrere Tränen über die Wange. »Als ich dann herausgefunden habe, dass Mahsun dich liebt, bin ich fast gestorben.«
Sie weinte. Ich war schockiert und doch wieder nicht. Irgendwie hatte ich das gewusst, aber ein Teil von mir hatte es immer abestritten. Es hatten einige Dinge einfach nie gepasst. Wieso hatte er mich zum Beispiel in eine Anstalt geschickt? Langsam legte ich meine Hand auf Narins Schulter. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte und was das Richtige war. Sie wischte sich mit ihrem Handrücken die Tränen fort, was nicht viel brachte, weil sie weiter Rotz und Wasser weinte. »Ich hab nichts gegessen. Nie. Ich wollte sterben, Nevra. Ich weiß, wie bescheuert das war, aber ich wollte es einfach nicht. Ich hab es nicht verkraftet, ich war nicht stark genug und ich weiß, dass das keine Ausrede ist. Unsere Haushälterin hat das gemerkt, dass ich nichts esse. Nicht mein Vater. Nicht meine Mutter. Sie hat mich gezwungen zu essen. Ansonsten hätte sie mich zum Krankenhaus gebracht und so. Das war die Zeit, wo ich den Babybauch bekam, also so klein. Das konnte man nicht merken. Ich dachte, das war, weil ich ja nichts gegessen hatte und dann plötzlich wieder drei Mahlzeiten zu mir nehmen musste. Dass mein Körper diese Umstellung ausgenutzt hat, um sofort Reserven anzulegen. Keine Ahnung. Dann musste ich immer wieder kotzen. Das hab ich auch auf die Umstellung geschoben, aber irgendwann stand ich dann vor der Apotheke und ich hab tatsächlich einen Test geholt. Ich war schwanger. Als ich das Mahsun erklärt habe, ist er direkt nach Paris geflogen. Das wollte ich dir sagen, aber Mahsun hatte dich in dein altes Haus gezerrt, weißt du noch?«
Ich nickte.
»Wetten, er dachte, ich wolle dich überreden nicht mit ihm zusammen zu kommen oder so. Danach hab ich dir meine Handynummer gegeben, aber das hat ja auch nicht viel genützt. Mahsun hat mein Handy geschrotet und mir gedroht. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich brauchte und dass es- dass es nicht wegen ihm sei, aber er hat mir nicht zugehört...«Sie legte die Hand auf ihren Bauch. »Es ist ein Junge, ich möchte ihn Bünyamin nennen.«
»Und wo wird Bünyamin aufwachsen?«
»Bei seiner Mutter. Keine Sorge. Ich möchte jetzt gehen. Bünyamin muss ich heute meinen Eltern zeigen. Was sie wohl sagen werden?«
»Sie werden dir beistehen, auch wenn es am Anfang Komplikationen geben wird.«Zu Hause versuchte ich mich abzulenken. Bünyamin ging mir aber nicht aus dem Kopf. Narin ging mir nicht aus dem Kopf. Viele Sachen nervten mich zurzeit. Auch meine Tante und mein Onkel wirrten in meinen Gedanken herum.
Plötzlich verdeckte jemand mit seinen warmen Händen mein Augen. Ich packte reflexartig auf die Hände und musste grinsen wie ein Psychopath. Ein leichtes Kribbeln setzte sich in meinem Bauch entlang bis zu meiner Brust. Sein Geruh umhüllte mich.
»Duhan«, nuschelte ich und zog ihm seine Hände aus dem Gesicht. In dem Moment küsste er mich leicht auf meine Wange und blickte mir gebannt in die Augen. Seine Ruhe ließ mein Herz unregelmäßig schlagen und meine Lippen bebten. Ich genoss jeden Augenblick mit ihm und doch reichte es mir nicht. Mit meiner Hand streifte ich durch sein Haar und konnte nicht fassen, dass selbst das mich aus der Bahn warf.
»Wie hab ich dich verdient?«, hauchte Duhan und legte seine Stirn auf meine.
»Bin ich so schlimm?«, scherzte ich und er gab mir noch einen kurzen Kuss. Dann stand er auf und machte Schritte aus dem Zimmer. Hä?Er kam in einer Sekunde aber wieder zurück mit einem großen Strauß Rosen. Ich quiekte wie ein kleines Kind und hüpfte umher. Mein Glück war kaum zu fassen.
»Willst du meine Freundin sein, Nevra?«
Ich warf mich in seine starken Arme, die mich sofort umschlossen. Er hob mich hoch und wirbelte mich umher. Als ich wieder den Boden unter den Füßen fand, flüsterte Duhan. »Überleg's dir zweimal. Mich loszuwerden ist sehr schwer.«
»Mich loszuwerden ist unmöglich«, hauchte ich. »Und das heißt ja. Ja bis zu unserem Lebensende.«Es klingelte an der Tür. Es war meine Kirsche und das bedeutete, dass es Zeit zum shoppen war. Sie brauchte noch ein Kleid für ihren Ball. Ich fragte sie öfter, mit wem sie hinging und sie änderte jedes mal schnell das Them. Wenn sie nur wüsste, dass ich mitkommen würde.
»Wie ist das?«, fragte sie und kam aus der Umkleide. Sie hatte ein Langes blau-graues Abendkleid an. Es war eng zur Taille und ging dann glatt runter. Dazu hatte es einen Träger, der voll war mit Rüschen.
»Nö«
»Wie viele Kleider soll ich noch probieren?«
»Bis du ein perfektes findest.«
»Also tausend oder was?«
»Ich dachte, du willst die Schönste sein, damit Ediz Augen macht?«
»Wie wie kommst du auf Ediz!?«
Süß. Sie wurde rot.
»Ach, wie komme ich da nur drauf?«, witzelte ich und drückte ihr das nächste Kleid in die Hand. Sie lief wieder in die Umkleidekabine. Weil sie in dieses Kleid nicht allein reinkam, musste ich ihr helfen. Es war ein rötliches Kleid, welches Spitzenärmel hatte. Das Kleid war lang und ging bis zum Boden. Es hatte eine Schleife in der Mitte, die nach hinten zeigte und zeigte etwas Rücken. Ich wusste nicht, wie ich sie beschreiben sollte. Sie sah einfach perfekt darin aus.
»Du siehst so wow aus.«
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Der Sehnsuchtsfall
RomansaSie ist an einem Ort, an dem die Wunden heilen sollen. An einem Ort, wo sich abgebrochene Zweige versammeln und ein neues Gerüst bilden. Wo Trost gespendet und ein neues Leben angefangen wird. So heißt es, aber so war es nie. Das merkt Nevra selbst...